02.03.2021 (Mittag)

Ein Kind mit Absicht von einem Elternteil und seinem Umfeld, zu dem es vorher guten Kontakt hatte, zu entfremden ist eine ganz üble Form des Kindesmissbrauchs. Das Perfide daran ist, dass zunächst keine äusserlichen Verletzungen sichtbar sind. Erst, wenn ein Kind begint, zu somatisieren, zu delinquieren oder gar sich selbst oder Andere zu verletzen, wird mit etwas Glück ein aufmerksamer Lehrer oder eine engagierte Schulsozialarbeiterin darauf kommen, dass hier etwas nicht stimmt. Ob sie dann aber den Mut und vor allen Dingen die Durchsetzungsfähigkeit besitzt, den Missstand offensiv anzusprechen, ist angesichts der hohen Arbeitsbelastung im Bildungsbereich fraglich.

Dafür, dass ein Kind auffällig wird,  muss der Leidensdruck schon ziemlich gross sein, was umgekehrt erahnen lässt, dass der emotionale Missbrauch durch den entfremdenden Elternteil schon lange anhält. Studien zu körperlich und sexuell misshandelten Kindern zeigen, wie viele Anläufe ein Kind unternehmen muss, bis Erwachsene seine Not Ernst nehmen und es aus dem schädlichen System, in welchem es gefangen ist, befreien helfen. Nicht selten schweigen solche Kinder bis ins Erwachsenenalter und tragen die ihnen auferlegte Last allein mit sich herum.

Ich selbst kann diesen Druck ansatzweise erahnen; zwar bin ich in meiner Kindheit und Jugend nie missbraucht worden, ganz im Gegenteil. Die Nachwirkungen der zahlreichen Operationen im Kleinkindalter und die anschliessende Isolation während der Schulzeit haben aber klar ihre Spuren hinterlassen. Auf meine zahlreichen Ängste, die häufige Melancholie oder die zwischenzeitigen Wutausbrüche reagierte ich mit Selbstvorwürfen, Schuldgefühlen und Selbsthass.

Mir ging es doch gut! Nicht nur durfte ich in vergleichsweise behüteten und begüterten Familienverhältnissen aufwachsen; mir wurde von meinen unkonventionellen Eltern auch eine Menge zugetraut und ermöglicht. Welches Recht hatte ich da, unglücklich zu sein?

Nicht gerade förderlich erwies sich dabei die Reaktion meiner Mutter. Wagte ich es einmal, mein Unbehagen leise anzusprechen, bekam ich zur Antwort, dass alle Kinder in diesem Alter manchmal Schwierigkeiten hätten. Sie habe schliesslich auch nie viele Freunde gehabt in der Schule. Bang! Und schon versank ich wieder einige zentimeter tiefer im Morast aus Schuld und Selbsthass.

Als Eltern den Kindern ihre Wahrnehmungen abzusprechen, ist keine sehr weitsichtige Strategie. Natürlich! Meine Mutter war in einer Zeit aufgewachsen, als man noch nicht über solche Dinge redete. Vielleicht war auch sie als Kind oft allein mit ihren Gedanken, Ängsten und Zweifeln. Aber man kommt kindlichem Ungemach nicht bei, wenn man es wegzuwischen sucht. Kinder beobachten ihre Umwelt genau. Sie merken gut, ob die anderen Kinder sich ebenso merkwürdig verhalten oder nicht. Sie sehen, dass die Gspänli auf dem Pausenplatz unbeschwert miteinander umgehen, während man selbst allein in der Ecke steht.

Ich brauchte lange, bis ich lernte, meiner eigenen Wahrnehmung zu trauen. Die Zauberformel hiess in meinem Fall Konstruktivismus.

Während des Studiums hatten wir Pädagogikkurse bei Dr. M. Der hatte an der Universität Münster, eine der führenden pädagogischen Fakultäten, gearbeitet und war deshalb, was Forschung und Lehre anbelangte, stets auf dem neuesten Stand. Und nun erklärte er uns die Theorie des Konstruktivismus.

Kurz zusammengefasst besagt die, dass die Art, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, auf unseren bisherigen persönlichen Erfahrungen beruht. Hatte ich in der Kindheit ein negatives Erlebnis mit Mäusen, werde ich künftig alles, was mit diesen putzigen Nagern zusammenhängt, negativ assoziieren.

Unser Weltbild ist also ein in sich geschlossener Kosmos, in den Eindrücke von aussen als sogenannte Perturbationen, also Störungen, eindringen.

Entweder schaffen wir es, diese äusseren Einflüsse in unser Weltbild zu integrieren, oder wir müssen es anpassen.

Bei Katzen wird mir deren Integration ein Leichtes sein, aber bin ich plötzlich gezwungen, mir mit einer Horde Hausmäusen die Wohnung zu teilen, wäre zuvor dringend ein refraiming notwendig.

Eine solche Anpassung des eigenen Weltbildes ist immer dann erforderlich, wenn die Dissonanz zwischen meinen eigenen Erinnerungen, Assoziationen, Erfahrungen, und Gefühlen zu gross ist, als dass ich den neuen Einfluss, also die Störung von aussen, darin würde integrieren können. Ich bin dann also im schlimmsten Fall – sagen wir in der Konfrontation mit den Hausmäusen – dazu gezwungen, mein Weltbild zu reframen, indem ich eine expositionelle Verhaltenstherapie beginne.

Abhängig davon, wie offen man emotionalen oder intellektuellen Herausforderungen gegenübersteht empfindet man Perturbationen entweder als Zumutung, oder man nimmt sie als Herausforderung an, die eigenen Wertvorstellungen und Überzeugungen zuweilen einem Reality Check zu unterziehen.

Meine Begeisterung war grenzenlos, als ich die Tragweite dieser Theorie für mein eigenes Leben erkannte. Auf einmal war meine Wahrnehmung der Welt nicht mehr falsch und defizitär, sondern stand gleichberechtigt als Ergebnis von biographischen Erfahrungen neben denjenigen meiner sehenden Mitstudierenden!

Auf meinen spontanen Ausruf „aber das ist ja revolutionär!“ reagierte Dr. M. fast ein wenig alarmiert. „Der Konstruktivismus ist aber keine Ideologie, Annelies. Nicht, dass wir das hier verwechseln…“

Nein, ist er nicht, Dr. M., aber der Konstruktivismus half mir trotzdem enorm, mich selbst und meine Wahrnehmung der Dinge besser zu verstehen. Und er befreite mich noch von einem anderen Übel, nämlich dem Glauben, immer alle Anderen von meiner Ansicht überzeugen zu müssen.

Ich frage mich: Wer wird R. das alles erklären. Wer wird ihm beistehen, wenn er auf einmal vor dem Einschlafen doch an die Mama denkt und dann traurig ist? Wer unterstützt ihn im Wissen darum, dass seine Lügen, die er über die Grosseltern erzählt hat, nur Ausdruck seines damaligen Loyalitätskonflikts, also so gesehen völlig in Ordnung waren? Wem kann er gestehen, dass er sich zuweilen seltsam fühlt, wenn er Gleichaltrige von ihren Müttern erzählen hört?

Sein Vater und seine Stiefmutter werden R. nicht dabei helfen können. Sie selbst waren es ja, die ihre eigenen negativen Emotionen nicht für sich behalten konnten, sondern sie auf ein unschuldiges, 8jähriges Kind projizieren mussten.

Wie lange wird R. wohl brauchen, bis er wieder lernen wird, seiner eigenen Wahrnehmung zu trauen?

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