26.01.2023 (Abend)
Liebe S.
Ganz herzlichen Dank für deine nette Antwort. Es freut mich sehr, dass du ganz in deiner Nähe einen guten Arbeitsplatz mit freundlichen KollegInnen gefunden hast. Ich glaube, dass eine erfüllende Arbeit in angenehmer Arbeitsatmosphäre extrem wichtig ist für ein zufriedenes Leben. Ich selbst mag meine zwar ehrenamtliche, aber deshalb doch nicht minder intensive Arbeit jedenfalls sehr, und ich habe während R.s Abwesenheit ganz viel Selbstwert und Lebenssinn daraus ziehen können.
Was deine Haltung der leidigen Drängerei bezüglich Kontaktaufnahme durch die Beiständin deiner Kinder anbelangt, verstehe ich deine Haltung voll und ganz. Für mich ist auch nicht ersichtlich, welche Art von „ersten Schritten“ ihr da überhaupt vorschweben. Hätte sie im Vorfeld zu einem solchen ersten Schritt bereits massiv viel vertrauensbildende Arbeit mit den Kindern geleistet und von diesen Kindern dabei Signale erhalten, dass sie dich sehen möchten, dann würde ich sagen: „ja, wag es und gib der Sache eine Chance!“
So, wie du mir und K. die Sache im Sommer aber geschildert hast, scheint die gute Frau fachlich ziemlich herumzueiern und nach dem Motto „Versuch und Irttum“ zu agieren.
Genau diesen Eindruck hatte ich Ende 2021, als kurzfristig ein Typ von einer „Kinderzusammenführungsagentur“ (weiss nicht, wie sich diese Aufbewahrungsorte für gescheiterte Sozialarbeiter-Existenzen genau nennen) für das Projekt engagiert wurde. Der führte Ende November ein etwa anderthalbstündiges Gespräch mit mir, um mir zwei Wochen später dann en passant zu eröffnen, er könne im Fall wegen nicht erfolgter Corona-Impfung kein Treffen in einem Restaurant mit R. durchführen und es wäre doch auch ganz lässig, im Tierpark mit selbstgemachtem Punsch und mitgebrachten (sicherlich) Bio-Vollkorn-Hanf-Kkeksen das Wiedersehen nach zwei Jahren zu begehen. Kleiner Fun Fact: Als er mir das während eines Spaziergangs mit Oak am Telefon schmackhaft zu machen suchte, lagen mindestens 30 cm Schnee, und es war A.-kalt).
Ich sagte ihm rundheraus, dass dies für mich nicht in Frage käme und R. und ich es dann schon lieber warm hätten. Er könne ja sonst vor der Beiz im Tierpark draussen warten…
Was jetzt einfach nur nach Sozialarbeiter-Kabarett klingt, war für mich damals aber nur halb so lustig. R.s Beiständin hatte es endlich geschafft, einen ersten Termin für ein Treffen genau auf R.s 12. Geburtstag zu legen, und dann kommt da dieser Schwurbler in Birkenstöcken, selbstgelismetem Pulli und Moos am Rücken daher und verlangt, dass wir (eigentlich die Klienten und damit die Hauptpersonen in dieser Aufführung) doch bitte schön den Rahmen für dieses erste Treffen seinen komischen Vorstellungen unterordnen sollten!
Zum Glück war ich damals wütend genug, um diesen Blödsinn abzuwehren, und als ich nach einer heftigen telefonischen Auseinandersetzung mit der Beiständin noch vor Weihnachten dann im neuen Jahr wieder runtergefahren war, entschieden wir uns Beide, diesen „Faktor“ definitiv aus dem Zusammenführungsplan zu entfernen und die Sache selbst weiter zu verfolgen.
Lange Rede kurzer Sinn: Trotz meiner massiven Verunsicherung und dem ganzen Trauma, das die Geschichte bei mir ausgelöst hat, habe ich mich doch immer fest auf meinen Instinkt und auf mein Bauchgefühl verlassen. Wenn ich in diesem Zirkus jemandem oder etwas nicht zu 100% getraut habe, dann habe ich die Mitarbeit verweigert. Im Endeffekt glaube ich, dass es mir so gelungen ist, meine Authentizität zu behalten und R. so schliesslich wieder als die Mutter zu begegnen, die er drei Jahre zuvor verlassen hatte.
Der Moment des Loslassens war in der Geschichte übrigens auch ganz wichtig. Sicher bis im Mai 2021 habe ich noch immer um R. gekämpft. Zwar nicht kontinuierlich, aber immer dann, wenn ich es mit sog. „Fachpersonen“ zu tun hatte. Ich weiss nicht, @liebe S., ob du meinen Blog-Eintrag über das missglückte Gespräch mit dem Kinderpsychologen Zuber von der Erziehungsberatung B. gelesen hast? Oh Mann! Das gäbe jetzt gleich noch eine Runde Kinderpsychologen-Kabarett oben drauf, aber weil ich diese Mail nicht überfrachten möchte, verweise ich dich auf den entsprechenden Blog-Eintrag vom April 2021…
Spätestens nach diesem furchtbaren Debakel habe ich mich auf einem Spaziergang mit Oak ganz ausführlich mit dem Chef da oben unterhalten. Ich habe ihm (übrigens zum wiederholten Mal) auseinandergesetzt, wie sauer ich auf ihn sei, dass ich der Auffassung wäre, diesen ganzen Scheiss eigentlich nicht verdient zu haben, und dass ich jetzt einfach am Ende meines Lateins sei. Damit übergab ich ihm die Causa R. in seine Verantwortung. Ich WOLLTE und KONNTE weder weiter kämpfen, wütend sein oder hassen.
Du wirst es mir kaum glauben, S., aber danach ging es mir wirklich besser. Von da an hatte ich nicht mehr ständig das Gefühl, ich hätte vielleicht doch noch dieses oder jenes ausprobieren und/oder besser machen können. Danach begann ich wohl erst wieder richtig zu leben; ich reanimierte alte Freundschaften, begann, mich wieder zu verabreden und probierte neue Aktivitäten aus.
Als im Sommer 2021 endlich die Übergabe der Beistandschaft von meinem Heimatdorf an die Stadt B. erfolgte, schrieb ich die neue Beiständin zwar an, erwartete dabei aber wirklich NICHTS mehr.
Und dann entschuldigte sich Frau Schw. doch tatsächlich dafür, dass sie mir erst nach ihren Ferien zurückgemailt hatte. O-Ton: „Das ist nicht in Ordnung (von mir). Was? Wie???
Es wäre wohl echt gelogen, wenn ich behaupten würde, dass Frau Schw. es immer leicht gehabt hätte mit mir. Auch in der Zusammenarbeit mit ihr gab es immer wieder Krisen und Momente, in denen ich mich durch abrupten Rückzug schützen musste oder zumindest glaubte, dies tun zu müssen.
Was ich aber immer kllar gespürt habe war, dass Frau Schw. absolut professionell an die Sache heranging und geht. Sie hört zu, schlägt vor, verhandelt, und immer steht bei ihr das Wohl von R. zwar im Vordergrund, doch nie scheint sie dabei das Umfeld so komplett aus dem Blick zu verlieren, wie ich es von sämtlichen Involvierten bislang den Eindruck gehabt hatte. Zum alleresten Mal auch fühlte ich mich in meiner Rolle als Mutter mit allenfalls vielleicht doch noch minimst vorhandenen Kompetenzen (Irony off!) wahrgenommen.
So war der Kontaktabbruch mit R. im letzten Sommer nicht die erste Krise in der Zusammenarbeit zwischen Frau Schw. und mir. Was ich letzten Sommer aber ganz klar zum Ausdruck brachte war die Feststellung, dass meine Familie und ich nun schon viele Zugeständnisse gemacht und in der Zusammenarbeit stets kooperiert hätten. Darauf basierend äusserte ich die klare Erwartung, dass man allenfalls vorhandene Probleme vielleicht auch einmal auf der Gegenseite suchen solle…
Als ich dann im September 2022 mit meiner Kollegin in Norddeutschland in den Ferien war, schickten wir R. ein paar Bilder aus den Ferien.
Im WhatsApp konnte ich sehen, dass er sie sich zumindest angeschaut hatte. Antworten tat er da noch nicht.
Zumindest wusste ich jetzt aber, dass R. mich nicht blockiert hatte. Nach den Ferien liess ich es erst einmal damit bewenden.
Am ersten Montag der Herbstferien 2022, am Tag also, als wir uns zum ersten Mal wieder begegneten, war gerade Einiges bei mir zusammengekommen. Die Enttäuschung über den neuerlichen Kontaktabbruch mit R. war nur eines der Themen, die mich da gerade umtrieben. Während ich mit Oak an diesem grauen, Septemberwochenende zuvor bei uns durch die Felder spazierte, hatte ich deshalb wieder einmal so richtig das Gefühl, vollkommen überflüssig auf dieser Welt zu sein. Wirklich alles erschien mir sinnlos, inklusive mir selbst.
Ich wusste, dass R. damals Kontakt hatte zu seinen Cousins und zu seinen Grosseltern. Mit meiner Mutter war dieses Thema schwierig, doch mit meinem Vater hatte ich die ganze Zeit über ja immer gut von R. sprechen können. In dem Moment aber fehlten mir sogar die Worte, um mich ihm mitzuteilen.
Und stell dir vor! Dann standen er und R. Abends um neun Uhr plötzlich vor meiner Haustür! R. war seit DREI Jahren nicht mehr in meiner Wohnung gewesen. All unsere Treffen zuvor hatten irgendwo in B. stattgefunden. Und jetzt fragten mich die Beiden plötzlich, ob ich mit zu den Grosseltern kommen wolle?
Ehrlich gesagt war ich so überrumpelt, dass ich das Angebot ausschlug. Ich hatte am nächsten Tag einen wichtigen Termin mit einem Klienten beim Migrationsdienst, den ich um nichts in der Welt verschlafen durfte. Ich gab ihnen aber die Hälfte des gerade gebackenen Kuchens mit und verabredete mich mit R. für den nächsten Tag in B.. Sein Handy war kaputtgegangen, das wusste ich vom Grossvater. Dass dieses funktionierte und R. so den Kontakt zu den Cousins aufrecht erhalten konnte – daran hatte ja auch ich grosses Interesse.
So trafen wir uns am darauffolgenden Dienstag im Bahnhof B. und erstanden ein secondhand-Iphone. R. war ganz aufgeräumt und gesprächig. MeineWorte zum Abschied, dass er bitte nicht wieder aufhören solle, auf meine Nachrichten zu reagieren, hat er von da an beherzigt. Erantwortet entweder oder macht einen Daumen nach oben.
Ja, liebe S.. So ist unser Kontakt wieder zustande gekommen. Frau Schw. freute sich ehrlich darüber, als ich ihr das per Mail mitteilte. Mittlerweile konnte ich ihr auch erklären, dass mich R.s plötzlicher Kontaktabbruch im Sommer ohne vorgänigen Anlass, zumal wieder im Zusammenhang mit Algerienferien, extrem getriggert und deshalb meine heftige Reaktion ausgelöst hatte. Irgendwie war das einfach zuviel an déjà-vu…
Ja, so kam der Kontakt wieder zustande. Und seither ist auch der Kontakt mit Frau Schw. wieder sehr konstruktiv. Wir haben für R. mittlerweile den Jugendlohn eingeführt, und sie hat einen ersten Hausbesuch bei mir gemacht (auch so etwas, was die VorgängerInnen Kinderversteher bisher nie für notwendig befunden hatten). Wenn es jetzt im Kontakt zwischen R. und mir zu Zusammenstössen kommt, schreibe oder erzähle ich es ihr, und wir suchen dann gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten.
Ich bin überzeugt davon, dass Beistandspersonen mit der Professionalität und dem Engagement einer Frau Schw. echte Goldnuggets in diesem Geschäft sind. In Ich bin aber ebenso überzeugt davon, dass nur mit genau dieser Professionalität und diesem Mass an Geduld solch verhärtete Eltern-Kind-Entfremdungen geknackt werden können. Zwischen dem „Amtsantritt“ von Frau Schw. und dem allerersten Treffen zwischen R. und mir liegen ACHT Monate! In diesen acht Monaten hat man die Sache aber nicht einfach laufen lassen, wie das in J. und bei Gericht vorher der Fall gewesen war. Es fanden X Treffen, Hausbesuche und sonstige Termine zwischen Frau Schw. und allen Involvierten (inklusive der Grosseltern, mit Hilfe derer schliesslich das erste Treffen zwischen R. und der Familie mütterlicherseits erfolgen konnte) statt.
Natürlich sind bei der Wiederherstellung des Kontaktes nach so langer Zeit viele Faktoren ausschlaggebend. Die Person der Beiständin, ihr Bild der Eltern als (in)kompetente „Mitspieler“ wie auch ihre allgemeine Arbeitsmoral scheinen mir wirklich zentral zu sein.
Von Vorteil in unserer Konstellation ist zudem, dass R.s Vater nicht narzisstisch veranlagt ist. Hinzu kommt, dass er sich mit seiner neuen Familie doch Einiges an Verpflichtungen aufgehalst hat, was wiederum zur Folge hat, dass seine Kontrolle über R. immer beschränkt blieb.
Ja, so lief das. Sorry, jetzt ist diese Mail doch ziemlich lang geworden, liebe S.. Was ich dir aber unbedingt noch sagen möchte ist, dass ich es absolut in Ordnung finde, dass du dich gegenwärtig um dich und um dein Leben kümmerst. Wenn deine Kinder einmal den Weg zurück zu dir finden werden (und das werden sie, denn sie haben doch viele Jahre unter deinem Einfluss verbringen dürfen), dann brauchen sie keine kranke, verhärmte und von Hass zerfressene Mutter. Wenn sie zurückkommen, dann werden sie sich genau die herzliche, aufgeschlossene und humorvolle Frau wünschen, der ich letzten Sommer begegnet bin.
Also bleib dran, halt die Ohren steif und geniess das Leben!
Alles Liebe und bis bald mal!