Ihr Lieben
Es hat geklappt!!! Und noch immer bin ich überwältigt von all den Gefühlen, die dieses Wiedersehen mit meinem Kind nach zwei Jahren und neun Monaten in mir auslöst. Deshalb verzeiht mir, wenn dieser Post vielleicht nicht ganz so strukturiert ausfällt wie üblich.
Mein süsser Goldfisch Oak hat mich vor dem Treffen beinahe noch in Stress gebracht; wahrscheinlich hatte Murph Heute noch nicht genug durcheinandergewirbelt. Nachdem ich mir im Tempo des gehetzten Waldaffen ein stück halb aufgewärmte Lasagne reingezogen und meine Jeans gewechselt hatte, machte ich mich rechtzeitig auf den Weg in Richtung Bahnhof. Unterwegs liess ich Oak noch kurz frei, damit er sein Geschäft verrichten konnte. Doch als ich pfiff, kam nix. Ich rief, pfiff, rief erneut…Und ging dann notgedrungen den Feldweg wieder zurück, und ziemlich genau an der Stelle, wo ich ihn freigelassen hatte, kam mein Oakie dann auch prompt angerannt, sich dabei genüsslich die Lippen leckend. Labrador in Reinform, eben…Das lässt sich halt nicht ändern.
Wie durch ein Wunder schafften wir es aber doch noch auf den Zug, und wie verabredet traf ich mich am Bahnhof mit M., der mich wieder zum Treffen begleitet.
Und vor der Wunderwaffel stehen sie schon: Frau Schw. und R.!
Oh mein Gott! Ist dieses Kind gewachsen! Er reicht mir jetzt bis zum Kinn! Und die Stimme ist auch viel tiefer geworden! Aber die Haare sind immer noch gleich. Daran habe ich ihn schon in der KiTa immer von den anderen Kindern unterscheiden können!
Aber…Ist das tatsächlich noch mein R., der sich gleich zielstrebig zu einem Tisch begibt und uns seine lieblings-Waffel-Kombi (suuuuuper süss!) empfiehlt?
Ich kann gar nichts essen, so aufgeregt bin ich. Okay! Ich habe ja vor einer guten Stunde noch ein Stück Lasagne gegessen, aber trotzdem hätte ich wohl keinen Bissen hinunterbringen können. Ich lasse Frau Schw. und R. an die Theke vorgehen und füttere erst einmal Oak…Ich brauche einen kurzen Moment, um diese ersten Eindrücke sacken zu lassen.
Danach begnüge ich mich mit einem Fruchtsaft und einem Kaffee…“Nicht wahr“, sage ich lächelnd zu R. „So kennst du mich gar nicht? Mama, die etwas Süsses auslässt…“ Damit habe ich ihn wohl auch zum Lächeln gebracht.
Natürlich dreht sich das Gespräch erst einmal um Fussball, genauer gesagt um YB. Gott sei Dank habe ich am Wochenende noch mitbekommen, dass die Youngboys am Samstag nach zwei Monaten wieder einmal gewonnen haben. M., R. und ich klären Frau Schw. über die Bedeutung des Terminus‘ „etwas veryoungboyseln“ auf und erläutern ihr die Symbolik der YB-Viertelstunde. R. erzählt jedoch, dass man die jetzt nach den vielen Niederlagen gar nicht mehr feiere. Wohl ein schlechtes Omen…So religiös, wie Fussball Heutzutage aufgeladen ist, kann ich mir gut vorstellen, dass auch der Aberglaube nicht weit ist…
Wir bewundern auch R.s neue, federleichte Fussballschuhe, die er vor dem Treffen noch bei Tante C. abgeholt hat. Echt federleicht sind die, und riesengross! „Welche Schuhnummer hast du denn jetzt?“ will ich verblüfft wissen. „39.“ „Mein Gott! Dann haben wir jetzt dieselbe Schuhgrösse!“
R. erzählt von der Schule, vom Fifa-Museum, vom Training. Drei Trainings pro Woche, jeden Samstag Match, danach oft noch Besuche im Wankdorf-Stadion, wenn die Profis Heimspiele haben. Das ist ein durchgetakteter Wochenplan, findet auch R.
Aber er macht einen zufriedenen Eindruck, zeigt uns stolz, wie man Airdrop benutzt. Ich schicke ihm ein Video von Oak, der Besuch von einem Hundebaby bekommen hat. Wir sprechen davon, dass R.s Grosseltern in England sind, um F. zu besuchen, und dass Airdrop auf so grosse Distanzen nicht funktioniert. Wir stellen uns lachend vor, ein gemeinsames Foto zu machen und dieses dann rund um den Tisch von Telefon zu Telefon zu airdroppen. M. ist raus, er hat kein Iphone.
Auch R. findet, dass Paps‘ Iphone 7 vollkommen outdatetd ist…Das Gespräch wird immer lockerer. Gemeinsame Erinnerungen kommen hoch.
Nach einer Stunde fragt R., was wir jetzt denn noch machen wollten. „Worauf hast du Lust?“ will ich wissen. „Keine Ahnung…“
Leichte Panik steigt in mir auf. Wofür interessiert sich mein Sohn jetzt? Bin ich ihm vielleicht schon langweilig geworden? Doch da kommt R. auf einmal unvermittelt auf sein Länderbuch zu sprechen, das er bei mir so gerne angeschaut hat. „Kennst du denn immer noch alle Hauptstädte?“ will ich wissen. „Hmmm…Einige habe ich vergessen. Aber ich habe in unserer Bibliothek schon angefragt, ob sie das Buch nicht bestellen könnten.“
Wie oft haben wir früher die Hauptstädte-Challenge gemacht! R. kannte sogar die Hauptstädte jener kleinen Inselstaaten im Pazifik und in der Karibik, die ich mir nie merken konnte. Die waren in meinem alten DDR-Atlas aus dem Jahr 1980 noch gar nicht unabhängig.
„Möchtest du das Buch denn wieder haben?“ erkundige ich mich. Ja, möchte er.
Okay. Dann haben wir einen Grund für ein nächstes, gemeinsames Treffen.
Frau Schw. und M. beraten sich indes rasch miteinander. Wir machen uns auf den Weg in Richtung Bundesterasse. R. läuft neben mir her, ich benutze den Stock und halte Oak an der Leine. So können wir uns auch auf dem Weg weiter unterhalten, und als wir auf der Bundesterasse ankommen, schauen wir uns gemeinsam das Modell an, welches der Lion’s Club im Jahr 2017 gestiftet hat und welches mit Beschriftungen in Braille in allen vier Landessprachen versehen ist.
Jetzt ist die Unterhaltung richtig entspannt. So viele gemeinsame Erinnerungen kommen hoch: Musik, die wir zusammen gehört haben. Unsere letzten Ferien auf den Kapverden. Die nette Reiseberaterin bei TUI. Gemeinsame Bekannte…. Auch Frau Schw. drückt ihre Freude über so viel Gemeinsamkeiten aus. Ob R. denn auch weitere Treffen wolle? fragt sie. Ja, möchte er.
Ich schlage vor, wieder einmal zusammen in einen Wasserpark zu gehen. Vielleicht mit den Cousins?
Langsam aber sicher begeben wir uns zusammen in Richtung Bahnhof. R. muss am nächsten Tag in die Schule, und auch Frau Schw. hat ihren Feierabend wirklich redlich verdient. R. hätte mehrere Möglichkeiten gehabt, uns auf dem Weg zum Zug zu verlassen und selbständig nach Hause zu gelangen. Aber R. bleibt neben mir, geniesst es offensichtlich, zusammen mit mir Erinnerungen wachzurufen. Sooo unendlich viel haben wir uns nach der langen Zeit zu erzählen.
Mitten im Bahnhof, als R. wieder so neben mir steht und ich ihm über die Haare streiche, übermannen mich plötzlich die Gefühle. Ich umarme ihn ganz fest, sage ihm, wie froh ich bin, ihn wieder zu sehen. „Du erdrückst mich ja fast, Mama.“ Aber es klingt nicht verärgert, eher meine ich, ein kleines Lachen aus R.s Stimme zu hören. Und ja. Gewiss habe ich auch etwas fest gedrückt…
Doch auch jetzt geht R. nicht weg in Richtung Lift und nach oben zu den Postautos. „Ich komme noch mit zum Zug.“ verkündet er.
Dort, wo ich früher oft Kaffee getrunken habe, hat ein Ableger eines grossen Buchladens eröffnet. „Willst du mal schauen gehen, ob sie das Länderbuch hier haben?“ Ja, will er. Er ist schon drin.
Sie haben das Länderbuch nicht, aber dafür finden wir einen Zauberwürfel. Die hatten wir zu Hause auch schon. Ich kaufe R. einen und sage ihm, er solle mich wissen lassen, wann er zum ersten Mal eine ganze Seite gleichfarbig geschafft hat. Aber keine Tricksereien wie in den Youtube-Challenges, wo sie den Würfel manchmal auseinandernehmen…Abgemacht!
Bevor wir den Zug nehmen, lässt sich R. nochmals von mir drücken. Dann geht er mit Frau Schw. in die entgegengesetzte Richtung davon, während M. und ich zum wartenden Zug gehen.
Ja, resümiert M. auf der Heimfahrt, daran lässt sich anknüpfen. Dasselbe Gefühl habe ich auch.
Das gemeinsame Foto von R. und mir gibts übrigens wirklich. R. hat es mir aber nicht ge-airdropped, sondern es mir über seinen WhatsApp-Account geschickt. Offenbar macht es ihm nichts aus, dass ich jetzt seine Nummer kenne. Die Grosseltern kannten sie schon seit Februar, und ich muss zugeben, dass es mir zuweilen enorm schwergefallen ist, meinen Paps nicht danach zu fragen. Wie gerne hätte ich R. schon vorher kontaktiert. Aber ich habe mich mit aller Kraft zurückgehalten, denn ich wollte, dass R. selbst entscheiden kann, ob ich die Nummer habe oder nicht. Keinesfalls wollte ich ihn bedrängen und das, was Frau Schw. da so vorausschauend aufgebaut hat, durch eigenmächtiges Dazwischenfunken gefährden.
Heute Abend aber schickte ich R. dann wie versprochen noch zwei selbstgemixte Jingles und ein Accapella-Medley mit Songs aus 2017. R. hatte nämlich in der Wunderwaffel einen Song im Radio erkannt und von sich aus gesagt: „Mama, den hast du doch immer gern gehört.“
Ja, meine Lieben…Irgendwie kann ich es noch gar nicht richtig fassen, dass alles nun plötzlich so unkompliziert gelaufen ist. Es war genauso, wie auch schon die Grosseltern ihr erstes Treffen mit R. beschrieben hatten: „Wie wenn gar nichts vorgefallen wäre…“
Und doch befällt mich beim Schreiben dieser Zeilen eine leise Angst. Vielleicht kennt ihr dieses Gefühl auch aus eurer Kindheit. Ihr habt etwas ganz Kostbares, aber wenn ihr es jemandem zeigt, werdet ihr es verlieren. Entweder nimmt es euch jemand weg, oder die anderen Kinder lachen darüber, womit es seinen Wert einbüsst. So ähnlich fühle ich mich gerade, ihr Lieben! Ich weiss, dass ihr Alle mit mir auf diesen Tag hingefiebert habt, deshalb teile ich nach all dem Schmerz nun auch gerne meine Freude mit euch.
Das Vertrauen aber, dass dieses Glück sich nicht wieder in Nichts auflöst wie ein schöner Traum – dieses Vertrauen muss ich mit weiteren Begegnungen erst noch wachsen lassen…
Frau Schw. habe ich heute Abend Folgendes geschreiben:
„Ich habe keine Worte, um Ihnen für all das zu danken, was Sie in den vergangenen Monaten möglich gemacht haben. Danke vor allem, dass Sie mir geglaubt haben und damit Ra. und mir eine neue Chance gegeben haben.
Wie gesagt: Ich selbst werde nie die Worte finden, um meine Dankbarkeit in adäquater Weise ausdrücken zu können. Es ist auch unwahrscheinlich, dass ich mich irgendwann bei Ihnen in angemessener Weise revanchieren können werde. Deshalb möge der, der, der alles lenkt, Sie dafür reich belohnen!“