15.04.2022 (Mittag)

Ihr Lieben

Sehr lange habe ich nichts mehr von mir lesen lassen. So viel ist in der Zwischenzeit passiert, doch wenn ihr weiterlest, dann werdet ihr verstehen, dass ich die erfreulichen Entwicklungen, die seit der Einsetzung von R.s neuer Beiständin, Frau Schw., in Gang gekommen sind, um keinen Preis gefährden wollte.

Denn nun endlich ist es soweit! Am nächsten Dienstag, dem 19.04.2022, werde ich R. zum ersten Mal wieder treffen können. Ob ich aufgeregt bin?, fragt ihr euch. Und wie! Aber gleichzeitig mit der Nervosität ist da auch ein nie dagewesenes Mass an Vertrauen, dass es jetzt der richtige Moment für ein solches Widersehen ist.

Auf meinen Spaziergängen mit Oak ertappe ich mich, seit der Termin nun endgültig feststeht, ganz oft dabei, dass ich mir dieses Treffen in Gedanken ausmale. Von den Treffen, die seit Februar zwischen R. und den Grosseltern, aber auch zwischen den Cousins stattgefunden haben weiss ich nämlich, dass R. immer noch R. ist, und dass es da Vieles gibt, auf das ich aufbauen können werde. Mein Paps hat mir diese ersten Begegnungen im Nachhinein minutiös geschildert. Da sind zahlreiche gemeinsame Erlebnisse, an die R. sich sehr exakt erinnert. Da sind so viele geteilte Freuden, die auch uns Beide wieder zueinander bringen werden, trotz der nunmehr fast drei Jahre währenden Trennung!

Es scheint beinahe, als ob R. diese Erinnerungen in sich selbst konserviert hätte. Trotz der wohl auch für ihn emotional furchtbar turbulenten letzten Tage vor seiner Abreise nach Algerien weiss er noch, hinter welcher Holzbeige er sich zusammen mit dem Grossvater versteckt hat, um die neben dem Rotondawald äsenden Rehe zu beobachten. Vor zwei Tagen war er gemeinsam mit seinen beiden Cousins auf dem Schulhausplatz Fussball spielen, auf demselben Fussballplatz, auf dem er auch die letzten Stunden vor der schicksalhaften, von Richterin Rickli angeordneten Übergabe an seinen Vater am 19. Juli 2019 verbracht hat. Tut er dies, um wieder nach Hause zu kommen? Oder haben diese für mich so entscheidenden Stunden in seinem Leben für ihn gar nie den gleichen, dramatischen Stellenwert erhalten wie für mich?

Auf Antworten auf diese Fragen werde ich wohl noch längere Zeit warten müssen. Ich werde dieses erste Treffen ganz vorsichtig angehen, werde beobachten, vorsichtig aufnehmen und abtasten, um zu ergründen, wo R. gegenwärtig steht. Heikle Themen werde ich selbstverständlich umschiffen. Der Vater und seine Familie werden bei diesem Treffen keinen Raum einnehmen. Für mich existieren sie nicht, es geht nur um R. und allenfalls darum, herauszufinden, ob da noch ein Band zwischen uns existiert und falls ja, wie stark dieses Band sein könnte.

R. hat sich als Treffpunkt ein Waffelrestaurant in Bern ausgesucht. Ich habe Frau Schw. mit einem Augenzwinkern geschrieben, dass diese Vorliebe für Süsses zweifelsohne bei uns in der Familie liegt. Vor Kurzem erst habe ich im Youtube nach Songs der deutschen Accapella-Gruppe „Maybe Bob“ gesucht; seit 2013 veröffentlichen die jedes Jahr einen sogenannten Flashback, ein Meddley, in dem sie die Songs aus dem vergangenen Jahr zusammenfassen.

Die Flashbacks aus den Jahren 2017 und 2018 werde ich R. vielleicht zeigen. Wie oft wir zusammen „Havanna on my mind“ oder „Je ne parle pas français, aber bitte red weiter…“ auf meinem Mobiltelefon rauf und runtergehört und dazu mitgesungen haben!

Seit R. fort ist, erkenne ich aus den darauffolgenden Flashbacks 2019 bis 2021 keinen einzigen Song mehr. Es hat mich schlicht nicht mehr interessiert, und ich habe abgehängt. Ob R. die Songs kennt? Und werden die Flashbacks ab 2022 wieder Musikschnipsel enthalten, die in meinem Leben eine Rolle spielen werden? Wird es eine Zeit geben, in der mir beim Hören eines dieser zukünftigen Songs wieder das Herz aufgehen wird wie wenn ich „despasito“ oder „…’cause your bedsheet smells like you“ mitsinge?

Und weiter frage ich mich natürlich, welche Lieder R. mit Erinnerungen an mich verbindet. Sind es die alten Kinderlieder, die ich und Nina Räber ihm immer vorgesungen haben? Erinnert er sich vielleicht auch noch an „immer uf di“ von Patent Ochsner? Den „Gummiboum“ könnte er auch aus dem Radio kennen; vielleicht läuft der Song, wenn er zusammen mit seinen Fussballkameraden von YB Black an den Samstagen zu irgendeinem Spiel gegen die Nachwuchsmannschaft irgendeines anderen Superleague-Clubs in irgendeiner Stadt in der Schweiz fährt. Aber darauf, dass er sich an „d’Finger ab dr Röschti“ oder gar an den „Füdli Ffingerfritz“ erinnert, verwette ich meinen …ehm…natürlich meinen rechten Arm.

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