19.06.2021 (Nachmittag)

Ihr Lieben

Ganz schön lange nun habt ihr nichts mehr von mir gelesen. Für mein scheinbares „Abtauchen“ entschuldige ich mich bei euch, aber denjenigen, die mich persönlich kennen, mag dieses plötzliche Verschwinden meinerseits bekannt vorkommen. Tatsächlich gehört das nicht zu den Eigenschaften, auf die ich wirklich stolz bin; im Gegenteil hat mich dieses Verhalten bereits einige Beziehungen gekostet.

Tatsächlich aber hängen meine Abtaucher wohl ganz fest mit der Tatsache zusammen, dass ich extrem im Hier und Jetzt lebe. Schon lange haben es mir meine Depressiven Episoden ausgetrieben, langfristig zu planen; das Leben hat sich ohnehin nie so entwickelt, als dass längerfristiges Planen eine Option gewesen wäre; schon allein meine prekäre finanzielle Situation zwingt mich dazu, einen Monat nach dem Anderen zu nehmen. Verabredungen, die ich vor einer Woche getroffen haben, scheitern nicht selten daran, dass zum zeitpunkt der Verabredung gerade etwas vollkommen Anderes Priorität hat.

Lange Zeit habe ich dieses Unvermögen meinerseits, verlässlich und verbindlich zu planen, als kaum aufzuwiegendes Defizit wahrgenommen; ich anerkenne, dass diese Eigenschaft für gewisse Menschen in meinem Umfeld bis Heute herausfordernd, ja oft nervig ist.

In den letzten Monaten, in denen ich mich ganz stark auf mich selbst zurückgezogen habe, hat sich meine Ansicht diesbezüglich aber etwas geändert. Ist es nicht gerade der Umstand, dass ich während meiner Klientengespräche so voll und ganz bei der Sache bin, der sie zufrieden hinausgehen und mich weiter empfehlen lässt? Macht nicht die Tatsache, dass ich mich beim Schreiben von Blog-Beiträgen, Kommentaren, aber auch von Gesuchen und Beschwerden geradezu vergesse, diese erst so recht einzigartig, weil diese vollkommene Fokussierung ihnen erst ihre charakteristische Authentizität verleiht? Und lautet nicht das gemeinsame Fazit so mancher Begegnung mit einer Freundin, die ich ewig lang nicht gesehen habe: „Wow! Es scheint, als hätten wir uns Gestern zum letzten Mal getroffen!“?

Überwiegend im Hier und Jetzt verankert zu sein, erlebe ich zunehmend als wertvolle Ressource, wogegen ich einen zu massiven Input an Eindrücken nun bewusst als überfordernd wahrnehme. Während ich von einem Spaziergang mit Oak, angereichert mit einem Podcast oder einem guten Buch, zufrieden zurückkehre, ergreife ich nach einem stündigen Aufenthalt in der Stadt nur allzu gerne wieder die Flucht aufs Land. Nichts entgeht mir in diesem affektierten Gewusel, ausser, dass ich mir dort wie ein Fisch am Strand vorkomme.

Während ein zu schnelles Alltagstempo und zu viele Eindrücke mich schon immer überfordert haben, hat mich das Drama um R. nun endgültig den Wert des „mit mir selbst-seins“ erkennen lassen. Nicht, dass ich diesen Rückzug auf mich selbst freiwillig gewählt hätte! Mit mir allein zu sein empfand ich stets als bedrohlich, ja regelrecht beängstigend. Da kamen Stimmen in mir hoch, die mich nicht selten innert kurzer Zeit davon zu überzeugen vermochten, wie wertlos mein Dasein und wie wenig liebenswürdig meine Person sei. Mein „inneres Kind“ mochte ich noch nicht einmal von Weitem anschauen!

Will ich aber verstehen, welchen Anteil ich an dem, was mir mit R. passiert ist, habe, dann komme ich um dieses innere Kind bzw. um dessen Beziehung zu seiner Mutter nicht umhin. Nicht umsonst hat mich meine Schwester, die auch eine Menge Mist erzählt, wenn der Tag lang ist, ganz zutreffend darauf hingewiesen, dass auch ich mich meiner eigenen Mutter gegenüber schrecklich verhielte. Damit hat sie zweifelsohne ins Schwarze getroffen; wenn es einen Sinn in dieser Krise gibt, dann ist es die Aufarbeitung dessen, was ich R. im Umgang mit der eigenen Mutter vorgelebt habe. Darauf habe ich weiss Gott keinen Grund, stolz zu sein!

Dieses Bewusstsein trage ich schon seit Langem mit mir herum; ehrlich gesagt fühlte ich mich bereits nach jedem Streit mit meiner Mutter, dessen Zeuge R. geworden war, furchtbar schlecht und unglaublich schuldig. Doch da war etwas, das stärker zu sein schien als ich selbst. Da war eine Art ohnmächtige Wut, die mich zuweilen bei Nichtigkeiten überroltte und die mich veranlasste, verbal ganz unglaublich hässliches Zeug auszuteilen. Oft erschreckte ich mich darob ob mir selbst.

Nachdem sich R. von mir abgewendet hatte, habe ich mir den Kopf über das Warum und Weshalb bis zum buchstäblichen Erbrechen, also bis hin zu schlimmsten Migräneanfällen, zermartert. Was hatte ich, mal abgesehen von den mir und euch nun bekannten Eltern-Kind-Entfremdungsmustern dazu beigetragen, dass sich R. bei mir nicht mehr sicher fühlte? Oder anders formuliert: Was in aller Welt hatte ich verbrochen, dass Gott mir eine derartige Prüfung auferlegen musste?

In diesen beiden Richtungen habe ich in den vergangenen Monaten extensiv geforscht. Endlich beschäftige ich mich richtig mit den Geschichten der Bibel, wobei mich einerseits die Pfarrerstöchter und andererseits „das Tagebuch der Menschheit“ begleiten; wie viele Familientragödien allein nur das alte Testament bereithält, aus denen wir lernen können!

Andererseits ziehe ich mir auf meinen Spaziergängen nun auch regelmässig Psychologie-Podcasts rein. Die vierzehntägigen Sitzungen mit meiner Superpsy reichen mir momentan nicht aus, um die vielen drängenden Fragen in meinem Innern auch nur annähernd zu beantworten. Ich empfinde es als ein wahrer Segen, dass die Thematik der psychischen Erkrankungen zumindest in Deutschland insoweit enttabuisiert zu sein scheint, als dass es dazu nun gleich mehrere, meiner Ansicht nach hochwertige und dabei auch noch äusserst unterhaltsame Podcast-Formate gibt.

Da ist zum Einen „die Lösung“, ein Podcast vom Bayerischen Rundfunk; nicht nur die beiden Moderatorinnen kommen ausgesprochen sympathisch, da authentisch rüber, auch das Motto: „Es gibt nicht die Lösung. Jeder strauchelt, so gut er kann.“ finde ich bestechend. Schliesslich ist es ja nicht so, dass diejenigen, die sich oberflächlich für gesund halten, keine Issues mit sich herumtragen würden. Offen gesagt sind sie meist nur zu feige, einmal selbst in den Spiegel zu schauen. Solange der Leidensdruck nicht gross genug ist ist es ja auch bequem, wenn man sagen kann: „Ach die! Die hat ja eh psychische Probleme. Da soll die bloss schauen, dass sie sich ordentlich behandeln lässt. Ich habe damit nichts zu tun!“

Sehr spassig und gleichzeitig hintergründig ist zudem „betreutes Fühlen“, ein Podcast von Podimo. Insbesondere die Episode zum Thema Depressionen würde ich gerne Jedem und Jeder als Pflichtauditüre auf die Ohren drücken.

Und zu guter Letzt bin ich dann – und damit wären wir wieder beim „inneren Kind“ bei einer veritablen Bestsellerautorin gelandet. Stefanie Stahls bekanntestes Werk „das Kind in dir will Heimat finden“ wurde vom Krimiautor Carsten Dusse in seinem Werk „Das Kind in mir will achtsam morden“ bereits parodirt, etwas, was meiner Ansicht nach durchaus ein Qualitätssiegel sein kann.

Ich selbst stand und stehe Psychologie-Ratgebern gegenüber sehr skeptisch gegenüber; nicht selten werden da Behandlungs- und Kindererziehungsanleitungen in Rezeptform angeboten, zeitnahe Erfolgsgarantie natürlich inbegriffen! Auch die ganze „Positive Thinking“- und „Selbstoptimierungs“-Welle finde ich grauenhaft!

Wohl auch deshalb habe ich bislang einen grossen Bogen um Stefanie Stahls „Kind in mir“ gemacht.

Nun moderiert diese Frau aber gleich zwei Podcastformate mit, die meine innere Widerstandsbarriere zu durchbrechen vermochten. Auch in „so bin ich eben – der Psychologie-Podcast für alle normal Gestörten“ ist der Untertitel Programm; Bindungs- und Verlustängste werden ebenso thematisiert wie Wut und Beziehungsfrust, und dies auf – wie ich meine – ausgesprochen unterhaltsame Art und Weise.

Noch einen Schritt weiter geht die Psychotherapeutin dann in ihrem „Stahl aber herzlich“-Format, in welchem sie Therapiesitzungen zu bestimmten Themen aufzeichnet. Da wirds den älteren unter uns gleich kalt über den Rücken laufen! Wer erinnert sich nicht an „zwei bei Kalvass“, eine „Reality Show“, die vor fünfzehn Jahren auf Sat 1 gelaufen ist und oft ziemlich peinlich war!

Als ich mir aber gestern Abend die Episode zu plötzlichen Wutanfällen reingezogen habe, während dem ich Milchreis kochte, verdampften mit dem Milchwasser zusammen auch meine letzten Vorbehalte. Das, was Frau Stahl da sagt, macht nicht nur intellektuell Sinn, sondern es überzeugt mich auch emotional.

Und so habe ich mich gestern Nacht auf die Reise zum Kind in mir begeben. Voller Neugier, was dabei wohl wieder rauskommt!

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