229.05.2021 (früher Nachmittag)

Ihr Lieben

In den vergangenen Tagen habe ich euch mit meinen Posts ganz schön beansprucht, sowohl quantitativ als auch qualitativ. Vielleicht habt ihr mittlerweile abgehängt, denn das ist ganz schön heavy Kost, die ich euch da zugemutet habe. Bei einigen unter euch, insbesondere denen, die sich zum Überleben in dieser komplexen Welt zuweilen auch an schwarz-weiss-Bildern festklammern müssen, um in diesem verrückten Alltag bestehen zu können, sind nun wahrscheinlich auch ganz gewaltige Zweifel aufgekommen. Ist sie wirklich das arme Opfer, als das sie sich darzustellen sucht? War es nicht richtig, dieser Frau, die ihre Impulsivität ja so wenig unter Kontrolle hat, das arme Kind wegzunehmen?

Ich würde es euch nicht verübeln, hättet ihr solche Gedanken. Trotzdem hege ich aber doch die leise Hoffnung, dass ihr nicht kontinuierlich der Spezies Schwarz/weiss angehört.

Ihr Lieben. Es war mir wichtig, euch einen Einblick zu verschaffen, mit welchen Anwürfen ich mich nun seit mehr als zwei Jahren herumschlage. Ich hätte diese Dokumente vor euch zurückhalten und euch in der beruhigenden Gewissheit belassen können, dass ich wirklich und zu keinem Zeitpunkt auch tatsächlich gar nie etwas falsch gemacht habe. Doch wer mich wirklich kennt weiss, dass dies nicht meine Art ist. Unreflektiertes Schwarz-weiss-Denken, Gut-vs-böse-Weltbilder und undifferenzierte Sachverhaltsdarstellungen sind mir geradezu ein Gräuel.

Und damit kommen wir zum Kern des heutigen Posts, nämlich der Frage, inwieweit unser geradezu penibler Bürokratieapparat, basierend auf einem sorgfältig ellaborierten Regelwerk, jedoch am Laufen gehalten von unzähligen, nicht immer sehr arbeitsamen und grösstenteils mehr als durchschnittlichen Menschen,in der Lage sein kann, Entscheidungen komplexe zwischenmenschliche Problematiken betreffend zu fällen.

Ich bin mir bewusst, dass ich damit eine hochphilosophische Frage aufwerfe, die unser westliches Verständnis von einer funktionierenden Staatsführung auf eine harte Probe stellt. Liegt nicht gerade in der unparteiischen Sichtung von Akten die Chance, Sachverhalte so unvoreingenommen wie nur immer möglich beurteilen zu können? Ist es nicht eine grosse Errungenschaft, dass zum Beispiel Asylentscheide mittlerweile nicht mehr von dem Sachbearbeiter gefällt werden, der die Befragung durchgeführt hat? Vermeiden wir damit nicht, dass Entscheide auf solch unwissenschaftlichen Grundlagen wie Sympathie, erster Eindruck, inhärenten Vorurteilen, etc. zustandekommen? Brauchen wir nicht ganz klare Checklisten, die uns bei der Beurteilung der Frage, ob jemand zum Beispiel Schutz vor Verfolgung benötigt oder nicht, als Richtlienien dienen und an denen wir uns quasi wie an einem Geländer entlanghangeln können, um so zur richtigen Lösung zu gelangen?

Jeder und jede, die wie ich seit Jahren im Asylbereich tätig ist und deshalb Befragungsprotokolle und Asylentscheide in ihrer gesamten Vielfalt zu gesicht bekommen hat wird mit mir übereinstimmen, dass dieses Vorgehen nicht funktioniert. Weswegen das so ist? Weil auch in dieses Verfahren Menschen involviert sind, und weil jeder Beteiligte seine ureigenen, zutiefst persönlich gefärbten Erfahrungs- und Erlebnisrucksäcke mitbringt, und zwar auf ALLEN Seiten.

Mit welch einer ungeheuren Anzahl an Unbekannten X wirr es so zum Beispiel in einer Asylentscheid-Konstellation, in welche bis zu einem rechtsgültigen Entscheid mindestens zehn derart unberechenbare Exemplare Mensch involviert sind, zu tun bekommen, wird uns jeder psychologisch einigermassen interessierte Laie bestätigen können.

Weshalb erzähle ich euch das hier? Weil ich verstehen möchte, wie es in der Causa R. so weit kommen konnte! Ich will auch begreifen, weshalb mich Berichte wie der von der Chaudhary noch immer die Fassung verlieren lassen. Es ist ja nicht so, ihr Lieben, dass ich – wie in meinem Post vom Mittwoch Abend vielleicht suggeriert -, ganz cool über derartigen Machwerken stehen kann. Vielmehr führen diese bei mir regelmässig zu massiven Wutausbrüchen, gefolgt von tagelangen körperlichen und seelischen Schmerzen. Ich schlafe dann nicht mehr, kann mich auf nichts mehr konzentrieren, bin nicht mehr in der Lage, meiner Arbeit für die Klienten nachzukommen. Nicht selten führen die Gefühle ohnmächtiger Wut zu selbst- und fremdzerstörerischen Gedanken, die ich euch an dieser Stelle gerne erspare. Kurz und gut: Solche Berichte, die ganz klar darauf abzielen, das Bild eines Menschen auch bei zukünftigen Leser*innen zu formen, besitzen eine unglaubliche Macht.

Nicht nur in den Asylverfahren lässt sich das beobachten; während im Beschwerdefall das SEM einfach Behauptungen aufstellen und dessen Entscheide bzw. deren Zustandekommen kaum einmal hinterfragt werden, tragen der Gesuchsteller und dessen Rechtsvertretung die gesamte Last der Beweisführung. Kurz: Während im Strafprozess der Grundsatz „in Dubio pro Reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) gilt, so verhält sich dies im Asylverfahren genau umgekehrt. Nicht das SEM muss seine Behauptungen belegen, sondern der oder die Asylsuchende.

Genauso scheint es sich im Kinderzuteilungsgewerbe zu verhalten. Während Beiständinnen und Gutachter einfach behaupten dürfen und diese Behauptungen nie hinterfragt werden, trägt der entfremdete Elternteil zum Schmerz über den Verlust auch noch die gesamte Beweislast.

Wobei…: Besser absichern könnten sich die Kinderzuteiler mit dieser Regelung gar nicht, denn irgendwann kommt in diesem zermürbenden, sich über Monate und Jahre hinziehenden Prozess unweigerlich der Zeitpunkt, in welchem der oder die Entfremdete einen Fehler begeht.

Sei es, dass er/sie, nachdem man ihr schon fünf Monate die Geldzahlungen zurückgehalten hat und ihr dann vorwirft, ihre Erschöpfungszustände seien der Grund dafür, dass sie die Kindererziehung nicht hinbekomme. Sei es, dass man von der komplett blinden Kindsmutter verlangt, ihr Kind an völlig neutralen Orten zu treffen, Orten also, an denen sie sich selbst gar nicht auskennt. Sei es, dass man die Kindsmutter verurteilt, nachdem sie zugegebenerweise ganz hässliche SMS geschrieben hat, nachdem sie ihren Sohn seit einem Monat telefonisch nicht mehr erreicht und ihm dann noch nicht einmal zum 10. Geburtstag hat gratulieren können? Sei es, dass man die blinde Kindsmutter nach Thun zum Gutachter schickt, an einen Ort also, wo sie sich erneut überhaupt nicht auskennt und deshalb massiv unter Stress steht, wenn niemand da ist, der sie dorthin bringen kann? Sei es, indem man die Kindsmutter nach mehreren Monaten Entfremdung dazu zwingt, mit dem Kind „eine Beobachtungssession zwecks Abklärung der Mutter-Kind-Interaktion“ abzuhalten…Etc. PP…Die Beispiele liessen sich endlos fortführen.

Und wenn man die Kindsmutter dann oft genug in Rage gebracht hat, dann ist denn die Behauptung der Chaudhary ja auch vollkommen schlüssig, die Mutter „spüre sich zuweilen nicht mehr“ und es bestehe damit der Verdacht, dass sie ihren Sohn misshandelt habe. Praktischerweise hat man ja das Thema „Schläge in der Erziehung“ vor 37 Jahren einmal diskutiert, und die Kindsmutter war ehrlich genug zuzugeben, dass ihr auch schon einmal versehentlich die Hand ausgerutscht sei. Daraus kann man sich dann auch gut und gerne die Theorie von einer Furie zusammenbasteln, welche ihr Kind regelmässig körperlich gezüchtigt hat – und das überdies auch noch vollkommen legitim findet.

Ihr Lieben. Ich hoffe, ihr versteht, was ich euch mit diesem Post zu sagen versuche. Schicksalsbestimmende Entscheide zum Leben eines Kindes können nicht auf Grund von Aktenlage und fünf Gutachtertreffen gefällt werden; die Anzahl der unbekannten X in diesem Verfahren ist schlicht zu hoch.

Berichte, welche einen Elternteil als den „Guten“ und den anderen als den „Problematischen“ darstellen, sind mit äusserster Vorsicht zu geniessen; sie sagen allenfalls etwas über den oder die Verfasser*in aus. und:

Solche Machwerke machen mit dem, den sie betreffen, eine ganze Menge; mein Mann bezeichnete unser System und dessen Vollstrecker*innen – sehr treffend, wie ich finde -, als „Silent Killers“ (leise Mörder). Ich kann dem nur beipflichten; die Gewalt, die mir von Seiten der Sozialversicherungen, des Sozialdienstes und insbesondere von der Kinderzuteilungsindustrie angetan worden ist, hätte in vielen Fällen tödlich enden können – sei es nun mit einem Suizid (Selbstgefährdung) oder einem Drama im zuständigen Büro (Fremdgefährdung); das hängt von der Konstitution des oder der Betroffenen ab.

Wer auf Menschen, die schon am Boden liegen, wer auf den Gefühlen derjenigen, die nichts mehr zu verlieren haben, dermassen herumtrampelt, wie es viele „Silent Killer“ tagtäglich und vollkommen unreflektiert tun, der braucht sich nicht zu wundern, wenn der Boomerang ihn eines Tages erwischt. Wer sich in seiner Hybris anmasst, über das Schicksal anderer Menschen in der Art und Weise zu urteilen, wie dies die Asylverantwortlichen im SEM oder die Player in der Kinderzuteilungsindustrie gegenwärtig tun, der sollte nicht überrascht sein, wenn die Verachtung, die er über ihm vollkommen Fremde ausgegossen hat, ihn unvermutet plötzlich selbst ereilt.

Keine Sorge, ihr armen Handlanger dieses menschenverachtenden Systems! Das hier sind keine Drohungen. An euch würde ich mir die Hände nicht schmutzig machen!

Mit euch abzurechnen, habe ich längst an eine höhere Instanz übergeben.

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