04.05.2021 (früher Abend)

Wir haben wieder einmal Stillstand in der Causa R.

Natürlich hat Fauzia nicht auf meinen Brief reagiert, obschon ich ihn zusätzlich auch noch ihrer Tante habe zukommen lassen. Möge Allah ihre Gebete und ihr Fasten in diesem Ramadan für nichtig erklären!

Herr Zuber und Herr Braun von der Erziehungsberatung überlegen sich wohl noch, ob sie jetzt doch rechtliche Schritte gegen mich unternehmen sollen. Vielleicht, so denken sie sich, wäre es aber auch klüger, die alte Irre einfach wieder mal auflaufen zu lassen.

Natürlich habe ich Herrn Braun den Link zum letzten Blog-Eintrag zugemailt; er soll sich bloss nicht einbilden, dass er mich mit seinem Brief so einfach zum Schweigen bringen kann.

Dank der Folge achtzehn aus einem weiteren meiner Lieblingspodcasts, nämlich der Serie „Verbrechen“, herausgegeben von „die Zeit“, glaube ich jetzt zu wissen, dass es Herrn Braun gar nie um R. oder um mich gegangen ist. Ich bin auf eine simple, wenn auch äusserst wirksame Deeskalationsstrategie hereingefallen, welche zum Beispiel auch Polizeipsychologen im Umgang mit Geiselnehmern und sonstigen unberechenbaren Irren immer wieder gerne anwenden:

Vermitteln Sie dem Aggressor den Eindruck, dass Sie ihn verstehen. Geben Sie ihm das, was er sich wünscht, nämlich Verständnis und Aufmerksamkeit. Dann wird er Ihnen aus der Hand fressen, und Sie und Ihre Mitarbeiter können wieder zum Normalbetrieb zurückkehren.

In den Bundesasylzentren hat man zwecks Wiederherstellung des Normal betriebs noch den „Besinnungsraum“ und die Securitas, aber Zuber, Braun und Co. müssen ohne diese praktischen Extras auskommen.

Gut verinnerlicht, Herr Braun! Mit diesem Deeskalationstrick kriegen Sie jede verzweifelte Mutter und jeden wütenden Vater aus Ihren heiligen Hallen hinaus. Die Eltern, die bei Ihnen ausser Kontrolle geraten und die deshalb die durchgetakteten Abläufe Ihres Beratungskarussels durcheinanderbringen, sind nämlich alle verzweifelt. Ob sie nun in Tränen ausbrechen, ihre Mitarbeiter anschreien oder sich gar zu einem Sitzstreik hinreissen lassen…Das Grundmotiv hinter einem jeden derartigen Austicker ist es doch, gehört, gesehen und bestenfalls verstanden werden zu wollen.

Und dann kommen Sie daher, Herr Braun, und verbreiten nur für einige Sekunden die Illusion, dass da jemand sei, der zuhört und dem es ein wirkliches Anliegen ist, zu verstehen. Zack! Damit haben Sie uns Alle am Haken!

Menschen aber, die das Gefühl des ohnmächtig Ausgeliefertseins kennen, durchschauen Ihr Spielchen spätestens dann, wenn Sie wieder in die altbekannten Verhaltensmuster zurückfallen und glauben, uns zeigen zu müssen, wo der Hammer hängt. Mit eingeschriebenen Briefen zum Beispiel, in denen Sie zwischen den Zeilen durchblicken lassen, wer in dieser Tramödie die Macht hat.

Sie haben mich an ein Ereignis erinnert, das mittlerweile fünfzehn Jahre zurückliegt. Damals habe ich – ganz entgegen meiner Gewohnheit – einen diensthabenden Arzt um ein Benzodiazepin gebeten. Der Abend war schon fortgeschritten, und ich fühlte mich rast- und ruhelos. Die Aussicht, gleich stundenlang grübelnd im Bett zu liegen, bescherte mir bereits Albträume.

Der Arzt stellte mir die Abgabe des Benzos in Aussicht, wenn ich ihm die Gründe für meine Ruhelosigkeit auseinandersetzte. Widerwillig nahm ich Platz und begann zu erzählen. Nach zwanzig Minuten beendeten wir das Gespräch, und ich verlangte nach dem versprochenen Medikament.

„Das brauchen Sie jetzt nicht mehr“, stellte der Arzt fest. „Wir haben ja nun gesprochen.“

Zwei Sekunden später flog ein Stuhl. „Friss dein Temesta selber“, rief ich und stürmte aus dem Raum. Eine weitere Viertelstunde darauf waren meine Habseligkeiten gepackt, und ich sass im nächsten Tram in Richtung meiner eigenen, leeren Wohnung. Eine lange Zeit der stationären Behandlung kam damit an ihr Ende.

Die Erkenntnis, dass ich mich von Ihnen habe übertölpeln lassen, versetzte mich zunächst in ohnmächtige Wut. Auch in Ihre Richtung, Herr Braun, hätte ich im Augenblick der Erkenntnis gerne einen Stuhl geschleudert. Ich fühlte mich von Ihnen genauso hinters Licht geführt wie an jenem Abend vor fünfzehn Jahren von diesem diensthabenden Arzt.

Damals ergriff ich instinktiv die Flucht, indem ich überstürzt die Entscheidung traf, wellche eigentlich schon längst überfällig gewesen wäre: mich selbst zu entlassen und wieder auf eigenen Beinen zu stehen.

Auf meinem Spaziergang neulich vollzog sich derselbe Prozess, diesmal jedoch in meinem Innern. Wie eine Geisel, die am Stockholm-Syndrom leidet, mache ich mich seit nunmehr zwei Jahren abhängig von den Einschätzungen der Akteure der Kinderzuteilungsindustrie. Ich löchere meine Superpsy, auf dass sie mich endlich diagnostiziere, dass sie mir das Irresein, das ihr mir laufend bescheinigt, endlich mittels einer Diagnose attestiere. Jeden Tag grüble ich darüber nach, ob euer Urteil, dass R. mich tatsächlich nicht mehr gern hat, vielleicht doch stimmen könnte, wäge die Möglichkeit, mit meinen Wahrnehmungen doch vollkommen falsch zu liegen, gefühlte unzählige Male ab.

Und ich lasse mich von Ihnen, Herr Braun, aus der reinen Sehnsucht danach, endlich von einem Akteur dieser Gilde verstanden, ja vielleicht sogar gemocht zu werden, mit einem simplen Deeskalationstrick ein weiteres Mal auf Monate, wahrscheinlich auf Jahre hinaus ausbooten!

Menschen, die als Geiseln genommen werden und daraufhin über Wochen und Monate hinweg ihren Entführern ausgeliefert sind, entwickeln zuweilen Verständnis, ja sogar Sympathie für ihre Peiniger. Sie sind Ihnen ja auch mit Haut und Haaren ausgeliefert. Ein falsches Wort kann das Todesurteil bedeuten, ein Kooperieren die nächste Mahlzeit oder einen weiteren Tag.

Mehr als einmal bin ich mit meiner Leidensgenossin K. deshalb aneinandergeraten. Ihr Verständnis für diese anmassenden Witzfiguren, welche sie immer wieder demütigten bis aufs Blut, trieb mich zuweilen beinahe in den Wahnsinn.

Seit R. mir weggenommen wurde und seither vom Vater von mir ferngehalten wird, bin aber auch ich von den Launen einzelner Akteure dieser Kinderzuteilungsindustrie abhängig. Sie entscheiden, wie lange sie mich warten lassen, wann sie mir endlich eine Audienz gewähren. Ihnen obliegt es, über Sein oder Nichtsein eines Kontakts zu urteilen – oder besser noch: sich dafür als nicht zuständig zu erklären.

Jedes einzelne Mal habe ich wieder auf einen Neuanfang gehofft! Aber eigentlich interessierten meine Ansichten sie nicht mehr, seit ich dem Beschluss der Gerichtspräsidentin Rickli im Juli 2019 nachgekommen bin und R. nach Algerien habe gehen lassen. Was immer ich auch sagte, schrieb oder tat – es zählte schlicht nichts mehr, seit mir Beiständin Chaudhary kurz zuvor in ihrem legendären Bericht das Etikett „unkooperativ“ verpasst hatte.

Es hilft auch nichts, wenn ich mich monatelang nicht mehr rühre, wenn ich selbst die Obhut an den Vater übertrage, wenn ich meine eigenen Bedürfnisse über Monate hintan stelle.

Irgend einmal kommt garantiert der Punkt, wo ich wieder einen Fehler machen werde. Unumgänglich und unausweichlich…Und dann lassen sie die Falle wieder zuschnappen. Dann lassen sie einfach alles Konstruktive weg und erwähnen nur noch das, was den schwierigen Charakter dieser Mutter illustriert.

Schliesslich hängt der Erfolg des Systems ja davon ab, dass es sich selbst immer wieder Beifall heischend auf die Schulter klopft. Mache ich mich weiterhin von eurem Urteil abhängig, dann habe ich gar keine andere Wahl, als euer negatives Bild immer und immer wieder zu reproduzieren.

Doch damit ist nun Schluss, Herr Braun, Herr Zuber, Herr Huggler, Frau Chaudhary, Frau Rickli und Frau Stempfel! Hiermit erkläre ich die Geiselhaft der Kinderzuteilungsindustrie über mein künftiges Leben für definitiv beendet. Macht, was ihr wollt, aber lasst mich mit eurem neunmalklugen Fachwissen zufrieden!

Mit allen Mitteln habt ihr mich in den vergangenen beiden Jahren daran gehindert, meine Verantwortung als Mutter von R. wahrzunehmen. Für nichts wart ihr euch zu schade, damit ihr eure Friedhofsruhe aufrecht erhalten konntet. Wider besseres Wissen opfert ihr R. auf dem Altar eurer Paragraphen und eures Fachwissens, auf dem weder Mutterinstinkt noch gesunder Menschenverstand einen Platz haben.

R. wird zu uns zurückkommen, dessen bin ich mir sicher. Bis dahin lege ich die Verantwortung für mein Kind in die Hände dessen, der alles sieht und lenkt. Endgültig! Unbedingt!

Denn wenn ich es jetzt nicht schaffe, mich aus eurer Geiselhaft zu befreien, dann werde ich nie mehr ein einigermassen normales Leben führen können.

Übrigens: Sollte die alte Bitch in mir versuchen, mich wieder umzustimmen, werde ich sie höchstpersönlich in Ketten legen und sie zu einem Monat Kerkerhaft in meiner linken Kniekehle verurteilen. Es gibt genug Bereiche in meinem Leben, in die sie ihre Kreativität hineininvestieren kann. Sogar die von mir totgesagte Behindertenselbsthilfe scheint nach der Dok-Sendung vom vergangenen Donnerstag wieder ganz neue Perspektiven zu bieten.

An der Kinderzuteilungsindustrie aber haben wir uns nun lang genug ergebnislos abgearbeitet.

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