Ihr Lieben!
Das Leben nimmt zuweilen ganz unglaubliche Wendungen! Niemand soll mir je wieder weismachen wollen, Zuckerbergs Facebook sei kein Segen. Doch der Reihe nach:
Da war eine Mutter, deren Kind seit fast zwei Jahren unerreichbar war. Jeder Versuch, mit ihm in Kontakt zu treten, wurde vom Vater und einer ihm wohlgesonnenen Falanxe von sog. Fachpersonen im Keim erstickt. Nicht selten fühlten sich die Mutter und ihre Familie wie Kriminelle, die für ein Verbrechen bestraft wurden, das begangen zu haben sie sich beim besten Willen nicht entsinnen konnten.
Die Mutter verzweifelte immer mehr. Es gab Tage, da kam sie beinahe um vor ohnmächtiger Wut und grenzenloser Trauer. Was sie auch sagte und tat – immer schien es den Jungen, den sie zuvor zu kennen geglaubt hatte wie sich selbst, noch ein Stück weiter von ihr und ihrer Familie wegzutreiben.
Das Gericht und die sog. Fachleute schienen ihre Meinung von vornherein gemacht zu haben. Niemand von ihnen hat die Mutter und ihre Familie je gefragt, wie es ihnen gehe, nachdem ihr Kind und Enkel von einer Reise ins Herkunftsland des Vaters zwar zurückgekommen ist, jedoch nie wieder zu ihnen nach Hause zurückgekehrt war.
Man labelte die Mutter als aggressiv, aufsässig und unkoopperativ, doch man interessierte sich nicht dafür, weswegen sie dem Vater ihres Sohnes gegenüber einen solchen Groll hegte. Die Schlussfolgerung war ja schliesslich so einfach: Die Mutter konnte einfach nicht damit umgehen, dass ihr Exmann eine jüngere und selbstverständlich hübschere Frau aus dem Herkunftsland hergeholt hatte. Und jetzt fing sie an, durchzudrehen…So klar war das.
Die Mutter erkannte bald, dass nichts, was sie sagen oder schreiben würde, die Ansicht der sog. Fachleute würde ändern können. Diese, dem Recht verpflichtet, fanden die Gefühlsausbrüche dieser Mutter ohnehin äusserst bemühend. Wieso sah die nicht einfach ein, dass der Junge eben beim Vater bleiben und sie und ihre Familie nicht mehr sehen wollte? Das war doch eigentlich nicht so schwer zu verstehen, oder etwa nicht?
Doch nicht nur die direkt involvierten Fachpersonen, sondern Beispielsweise auch die Verantwortlichen im Fussballclub oder die neue Schule des Sohnes fanden es offenbar ganz normal, dass die Mutter dieses Kindes völlig abwesend war. Dass das Kind akzentfrei Berndeutsch sprach, während seine „neuen“ Eltern beide Arabischer Muttersprache sind, schien offenbar niemandem aufzufallen. Niemand stellte Fragen, niemand kontaktierte von sich aus die Mutter.
Mit jedem neuen Kontaktversuch schmolzen die Hoffnungen und das Selbstvertrauen der Mutter etwas mehr dahin, bis sie zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung derart klein waren, dass sie sich von der Verhandlung aus gesundheitlichen Gründen dispensieren liess. Dabei ist die Mutter kein Mauerblümchen, und sie ist auch keine Frau, die sich bei Unannehmlichkeiten einfach zurückzieht. Doch sie kam an den Punkt, wo sie sich mit dem Gedanken abzufinden begann, ihr Kind – wenn überhaupt – erst als erwachsenen jungen Mann wiederzusehen.
Nachdem das Urteil begründet war, begann die Mutter das zu tun, was sie gut konnte: Sie fing an, einen Blog zu schreiben. Sie Konnte und wollte diesen ganzen Schmerz nicht länger unbemerkt in sich tragen. Und sie wollte, dass ihr Sohn etwas finden würde, wenn er eines Tages nach ihr suchte.
Mehrmals hatte die Mutter zuvor befreundete journalisten darum gebeten, die Geschichte ihres Sohnes öffentlich zu machen. Aber Familienangelegenheiten sind in der Schweiz noch immer Privatsache und können aus Datenschutzgründen nicht…Und selbstverständlich scheint das Journalistenethos gerade in solchen Fällen strikte, gutschweizerische Neutralität zu gebieten.
„Na gut“, sagte sich da die Mutter. „Wenn es sonst keiner tut, dann muss ich die Geschichte eben selbst aufschreiben.“
Doch das ist gar nicht so einfach, selbst dann, wenn einem das geschriebene Wort normalerweise leicht über die Tastatur geht. Die Mutter war es gewohnt, Geschichten zu erzählen, Geschichten von Flucht und Unterdrückung, Inhaftierung und Leid. Diese Geschichten erzählte sie den zuständigen Behörden und Gerichten, doch das waren die Geschichten ihrer Klient*innen.
Jetzt aber war es ihr ureigenes Erleben, welches sie mit dem Anspruch auf grösstmögliche Ehrlichkeit und Vollständigkeit zu Papier zu bringen gedachte. Doch dazu musste sie, die sonst immer als Fels in der Brandung auf ihre Klient*innen wirkt, auf einmal ihre im tiefsten Innern verborgenen Geheimnisse und Gefühle nach aussen tragen. Und sie musste hart mit sich selbst ins Gericht gehen, wollte sie doch ergründen, was sie selbst zum Zerreissen des Bandes zwischen sich und ihrem Sohn beigetragen hatte.
Um vor ihrem Anspruch nicht von vornherein zurückzuschrecken oder aber von der Wucht der auf sie einstürzenden Emotionen ins Bodenlose mitgerissen zu werden, schrieb die Mutter ihre Geschichte in verdaulichen Dosen nieder. Kontinuierlich schrieb sie, doch achtete sie gut darauf, sich nie in der Endlosigkeit eines Themas zu verlieren.
Ihre Beiträge fielen je nach Tagesform ganz unterschiedlich aus. Manchmal schaffte die Mutter es, ganz nah an sich selbst und ihren Gefühlen dranzubleiben. An anderen Tagen war es die Erinnerung an ein Erlebnis mit ihrem Sohn, welches sie in einem Beitrag festhielt.
An manchen Tagen fielen die Beiträge aber auch allgemeiner aus. Einmal Ende Februar schrieb die Mutter zum Beispiel einen Beitrag über extreme Ausprägungen von Religiosität und dem bigotten Schweizer Umgang damit. Auf einmal wurde dieser Beitrag geliked und später gar mit einem ziemlich schmeichelhaften Einführungstext vorab geteilt, und dies nicht von einer der vielen – oft jahrelang aus den Augen verlorerenen – Freund*innen, welche die Mutter durch ihre mitfühlenden Kommentare und Reaktionen vor allem anfangs immer wieder zum Weiterschreiben ermutigt hatten, sondern von einem – wie sie findet -, sehr überzeugenden Menschenrechtsaktivisten und Kämpfer gegen den politischen und dadurch zunehmend fundamentalistischen Islam. Ja! Kacem Elghazzali persönlich zollte ihrem Beitrag und auch ihrem Engagement Anerkennung!
Ihr Text kostete die Mutter zwar einige langjährige Facebook-Freunde, doch die liess sie gerne ziehen. Sie glaubt nicht, dass sie es nötig hat, sich die Rassismuskeule um die Ohren hauen zu lassen – nicht von sog. Fachgutachtern, und erst recht nicht von Menschen, die sich in irgendwelchen Facebook-Bubbles fernab der Realität gegenseitig in ihrem Gutsein bestärken müssen.
Doch welch wahren Menschenfreund sie mit Kacem Elghazzali an diesem 27. Februar 2021 gewonnen hatte, stellte sich erst anderthalb Monate später heraus. Da war dieser Brief, den die Mutter aus der Erkenntnis heraus, dass wohl am ehesten die Solidarität unter Müttern die unselige Patt-Situation mit ihrem Sohn würde durchbrechen können, geschrieben hatte. Mittlerweile hatte sie sich nämlich das Urteil, welches ausser der Obhutszuteilung an den Vater und die Belassung des gemeinsamen Sorgerechts eigentlich nichts regelte, im Lichte der Publikationen des Marie Meierhöfer-Instituts noch einmal ausgiebig durch den Kopf gehen lassen. Wenn die Entfremdung zwischen einem Elternteil und einem Kind nicht induziert, sondern Resultat eines langfristigen Prozesses ist, so schlussfolgert die Mutter, dann müsste dieser Prozess mit geeigneten Mitteln ja auch wieder rückgängig zu machen sein.
Weshalb also nicht doch wieder einmal einen Schritt wagen, jetzt, da all die sog. Fachpersonen aus dem Spiel sind?
Und so schrieb die Mutter an einem windigen Samstag Nachmittag einen Brief an die neue Ehefrau des Vaters. Doch wie um alles in der Welt sollte der Inhalt dieses Briefes die Frau erreichen? Die Mutter kann nicht genug Französisch, und wie gut sie die Sprache beherrscht, weiss sie nicht. Ein persönliches Treffen traut die Mutter sich noch nicht zu. Dafür ist sie noch zu sehr verletzt. Also bleibt nur das Schreiben, welches ihr genügend Raum zum Nachdenken und Korrigieren lässt.
Und so schrieb die Mutter vor zwei Tagen eine Anfrage per Messenger an Hern Elghazzali. Und einen halben Tag später versuchte sie es noch einmal. Und der antwortete ihr doch tatsächlich!
Ob er jemanden kenne, welcher den Brief ins entsprechende Arabisch übersetzen würde, fragte die Mutter. Selbstverständlich gegen Honorar! Wie lang der Brief denn sei und worum es sich denn handle? Ob juristisch oder familiär? Hmmm…“Eher familiär“, erwidert die Mutter.
Es dauert nur ein paar Minuten, bis Kacem Elghazzali zurückschreibt. „Für Sie würde ich das gratis machen.“ Und seine Mailadresse in der Folgenachricht!
Ich habe Tränen der Rührung in den Augen, wenn ich das hier niederschreibe. Bereits einen Tag später habe ich eine arabische Fassung des Briefes, übersetzt von einem Mann, für den Schreiben zum täglichen Brot gehört! Ich kann mir also sicher sein, dass nicht nur meine Botschaft, sondern auch der Ton, den ich in meinem Brief gewählt habe, bei Fauzia ankommen wird.
Mir fehlen die Worte, um diesem Menschen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Schicksale von Gewissensgefangenen ins Blickfeld der Vereinten Nationen zu rücken, zu danken! Dafür, dass er das einfach so für mich getan hat!
Seit vielen Monaten hat die Mutter wieder Hoffnung. Hoffnung darauf, ihren Sohn doch vielleicht wiederzusehen, bevor er zu einem jungen Mann herangewachsen sein wird!
Danke von ganzem Herzen, Herr Elghazzali!