Ich bin ganz fürchterlich nervös Heute, und das schon den ganzen Tag über. Ganz kribbelig und aufgekratzt bin ich, aber nicht im positiven Sinn.
Ich muss mir eingestehen, dass das, was mir da die Konzentration und den Antrieb raubt, wohl die Angst sein muss, die sich in meiner Magengegend unangenehm breit macht.
Weil es jetzt plötzlich nicht mehr unmöglich scheint. Weil das, womit ich die ganzen letzten Monate über abzuschliessen versuchte – ohne es allerdings wirklich zu wollen -, auf einmal wieder im Ansatz möglich erscheint.
Die Hoffnung, mein Kind wiederzusehen, bevor es als erwachsener Mann von allein zu mir zurückkommt – so quasi als der verlorene (und damit natürlich reuige) Sohn -, konfrontiert mich mit Gefühlen, die ich des reinen Überlebens Willen in den vergangenen Monaten wegzudrängen gelernt habe.
Dass R. das Osternest entgegengenommen hat zwingt mich, mich noch ein Stückchen mehr aus meiner Deckung, nämlich aus der Rolle des ohnmächtigen Opfers, in welche die sog. Fachpersonen mich die vergangenen beiden Jahre über hineingetrieben haben, herauszuwagen. Der nächste Schritt steht jetzt unweigerlich bevor, und ich mache mir keine Illusionen darüber, dass auch der von mir kommen muss. Doch je weiter ich mich aus meinem Schneckenhaus, in das ich mich zum Schutz gegen die unzähligen Verletzungen zurückgezogen habe, hervortraue, desto verwundbarer mache ich mich.
Wieder einmal werde ich mich von den Reaktionen Anderer abhängig machen müssen. Wenn ich den Brief abschicke, dann begebe ich mich damit quasi in die Hand der Menschen, die mich so tief verletzt haben, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Wirklich scary, finde ich!
Beim Gedanken, mich freundlich mit dieser Fauzia, mit deren Auftauchen das ganze Unglück ja seinen Lauf genommen hat, an einen Tisch setzen zu müssen, zieht sich alles in mir zusammen. Da können mir meine Ratio und meine gute Freundin H. noch lange beteuern, dass sie ja nichts dafür kann, dass es ja Kader war, der dieses ganze bescheuerte Versteckspiel mit R. angefangen hat. Wie recht ihr habt, liebe Ratio und liebe H., aber ich weiss auch um meine Wut dieser Fauzia gegenüber. Wut darüber, dass sie es zuliess, dass man mir mein Kind weggenommen hat. Angst davor, dass R. sie mittlerweile lieber mag als mich. Eifersucht, weil sie R. in den vergangenen beiden Jahren hat aufwachsen sehen dürfen – und ich nicht.
Kader ist mir merkwürdigerweise vollkommen egal. Ihm gegenüber empfinde ich – nichts. Ich kenne ihn gut genug um mir sicher sein zu können, dass ich um keinen Preis auf der Welt mit ihm würde tauschen wollen. Bei ihr ist es dieses nicht Greifbare, diese – wahrscheinlich vollkommen eingebildete – Macht, die R. sich für sie und damit gegen mich entscheiden liess.
Es ist mir sehr wohl bewusst, wie irrational meine Gedanken und Emotionen gerade sind. Ich denke aber, dass es wichtig ist, sie zuzulassen, bevor ein mögliches Zusammentreffen ansteht.
Ich glaube nicht, dass es etwas bringt, diese negativen Gefühle einfach als widersinnig abzutun und sie deshalb wegzudrängen. Zu gross ist die Gefahr, dass sie da unten vor sich hinköcheln, um sich dann im dümmsten Moment unkontrolliert Bahn zu brechen.
Die Auseinandersetzung mit Wut, Angst und Eifersucht – auch das wird wohl Teil des langen Heilungsprozesses sein, den zu durchlaufen für eine Wiederaufnahme des Kontakts zu R. wohl unabdingbar ist. Und irgendwie scheint es mir ungerecht, dass schon wieder ich diese ganze Knochenarbeit machen soll! Ja, sogar verdammt ungerecht finde ich das!
Eigentlich habe ich euch und mir ja noch vor wenigen Wochen geschworen, nie wieder etwas mit den beiden Menschen zu tun haben zu wollen, die mir mein Kind weggenommen haben. Damals, gleich nach dem Urteil, schien aber auch alles zu Ende zu sein. R. weg und für Jahre unerreichbar – abschliessen. Diese Leute – ab in die Tonne und Deckel drauf.
Aber das geht jetzt nicht mehr. Wenn ich R. wirklich wiedersehen will, dann führt der Weg zu ihm unweigerlich über diese Fauzia. Es wurmt mich ehrlich gesagt ganz gewaltig, dass ausgerechnet sie den verdammten goldenen Schlüssel zu R. in der Hand hält, aber ich kann es nicht ändern.
Deshalb musste ich diesen Brief schreiben. Merkwürdigerweise gingen mir die Worte – und mit dem Schreiben sogar ihr Name – auf einmal leicht von der Hand. Während ich schrieb, habe ich mit einem Menschen kommuniziert, obgleich ich das eigentlich gar nicht wollte.
Dass H. R. gestern Abend jedoch zufrieden in ihrer Anwesenheit erlebt hat, stellte sich für mich gefühlsmässig als schwieriger heraus. Es weckte diese unangenehmen Gedanken und Emotionen, die ich aber an mich heranlassen muss. Ich muss mich damit auseinandersetzen, um für eine spätere Begegnung gewappnet zu sein. Ansonsten schlage ich mir im entscheidenden Moment wieder die Tür, die ich mit viel Mühe einen Spalt weit aufgestossen habe, selbst vor der Nase zu.
Was da als Vorbereitung wohl hilft? Ob die Superpsy nächsten Montag wohl erst kathartische Schimpftiraden und danach diplomatische Rollenspiele mit mir veranstaltet?
Und dann ist da natürlich noch die grosse Unbekannte R., die mittlerweile zwei Jahre älter und damit schon fast ein Teenager geworden ist. Kann es mir nach all dem Gewesenen überhaupt gelingen, ihm gegenüber wieder in eine Mutterrolle hineinzufinden? Oder wird er in Zukunft jedes Mal, wenn ich irgendetwas sage oder tue, was ihm nicht passt, gleich mit der Kontaktabbruchskeule schwingen? Falls ja: Wie oft mache ich das Spiel mit?
Und wie werde ich reagieren, wenn ich in ihm den Vater erkenne? Wie stark wird mich das triggern? Bin ich nicht unweigerlich dazu verdammt, dann plötzlich eine unbedachte Bemerkung zu machen und so R. wieder für Monate von mir wegzutreiben?
Mann! Da sind so unendlich viele Fragen und Ängste, dass ich am liebsten die Tür gleich selbst wieder zuschlagen würde. Dann hätte ich zumindest die Kontrolle über das, was ab jetzt passieren wird. Ich könnte wieder abspalten und in die Tonne hauen. Hier ich, das Opfer, da drüben die Bösen, und irgendwo in unerreichbarer Ferne das süsseste und liebste aller Kinder, das ich irgendwo auf meinem Weg verloren habe…
Zu einfach, um funktionieren zu können. Die alte Bitch in mir wird darüber keine Ruhe geben. Sie wird mich immer wieder dazu anstacheln, die Tür aufzustossen…
Blöde Bitch! Kämpfen ist so unglaublich anstrengend!