Ich kann mich nicht entscheiden, wie ich dich ansprechen soll. Mir fehlt dazu ein ausreichend klares Bild darüber, wer du bist.
Ich habe dich nur ein einziges Mal gesehen; als wir uns am 16. September 2019 auf Anordnung von Gerichtspräsidentin Rickli im Büro meines Rechtsanwalts getroffen haben. Auch Kader, dein Mann, und dessen Rechtsanwältin waren zugegen, aber sie haben sich allesamt im Hintergrund gehalten, während wir Beide miteinander gesprochen haben.
Ich habe dir das Fotoalbum gezeigt; so hast du R.s gesamtes Leben bis zu der verhängnisvollen Algerienreise im Sommer 2019 kennengelernt. Du hast auch die Gesichter der Menschen gesehen, die vor deiner Zeit wichtige Bezugspersonen für den Jungen waren. Du hast doch zweifelsohne gesehen, dass die Grosseltern oder R.s cleine Cousins keine Monster sind, sondern ganz normale Menschen, die lachen und lieben und trauern – genauso, wie ihr auch.
Es fällt mir schwer mir vorzustellen, wie du mich wahrgenommen hast. Ich weiss ja nicht, welche Erwartungen du hattest. Was man dir wohl über meine Familie und mich erzählt hat?
Du bist keine dumme Frau, glaube ich. Angeblich bist du sogar ausgebildete Tierärztin. Okay, du bist jung, die Lebenserfahrung, die ich habe, konntest du noch nicht sammeln. Dafür kannst du nichts, und das ist auch der Grund, weshalb ich dir hier nochmals schreibe.
Entgegen den Behauptungen vieler in meinem Umfeld warst du für mich aber nie einfach das willenlose Opfer. Ich denke, mit dieser Simplifizierung wird man dir als Persönlichkeit nicht gerecht werden. Immerhin hast du – hoffentlich aus freien Stücken, doch davon gehe ich aus – die Entscheidung getroffen, in einem völlig neuen Land ganz neu anzufangen. Das erfordert doch schon etwas Mut, denke ich.
Du sprichst zudem Französisch und ein wenig Englisch. Das bedeutet, dass du zumindest ein stück weit auch westliche Schulbildung genossen hast. Keine Ahnung, wie die Ausbildung zur Tierärztin dort, wo du sie absolviert hast, aussieht. Ich stelle sie mir recht theoretisch vor. Aber dass du dich dafür entschieden hast lässt mich zumindest darauf schliessen, dass du Tiere magst.
Ich weiss nicht, wie deine Träume aussahen. Kaum aber kann ich mir dich als Kuh- und Pferdehebamme vorstellen. Dazu müsstest du über Land reisen, müsstest mit fremden Bauern Kontakt haben, und du müsstest von deiner Art her zupackender sein.
Selbstverständlich habe ich dich mir nach dem Treffen beschreiben lassen. „Ein ätherisches Wesen“, meinte mein Anwalt. Also eher nicht die Kuh- und Pferdeärztin, die über Land fährt und Kälbern und Folen auf die Welt hilft.
Aber der Umstand, dass du Tierärztin bist – gesetzt der Fall, das stimmt auch wirklich – macht dich mir trotzdem sympathisch. Man sagt, dass der, der gut mit Tieren umgeht, auch freundlich zu seinen Mitmenschen sei.
Ich war nicht freundlich zu dir, das weiss ich. Genau genommen habe ich ein paar ganz hässliche Dinge über dich gesagt und geschrieben. Die hatten aber eigentlich nichts mit deiner Person zu tun, denn die blieb für mich bislang im Verborgenen. Nein, bei Gott bin ich keine Frau, zu Eifersuchtsdramen gegenüber ihren Expartnern oder deren Frauen neigt – zumal das Kapitel mit deinem Mann für mich auf der Paarebene ja seit 2010 abgeschlossen ist. Da bin ich ausgezogen, und der Grund, weshalb ich deinen Exmann drei Monate später wieder mit in die neue Wohnung habe einziehen lassen, war – was eigentlich…? Mitleid? Verantwortungsgefühl?
Da stand der einfach plötzlich wieder mit seinen Sachen, und ich dachte: „He? Du kannst doch nicht! Aber schliesslich ist er R.s Vater, und du willst ihm den doch nicht wegnehmen…“ Also überliess ich ihm das geplante Kinderzimmer und wartete mit der Trennung, bis er 2013 seine Niederlassungsbewilligung erhalten hatte.
Nein, liebe Fauzia. Wir haben einander nicht mehr angerührt, seit ich im Mai oder Juni 2010 zu meinen Eltern gegangen war. Diesbezüglich bin ich konsequent, denn ich halte gegenseitigen Respekt höher als von vornherein zum Scheitern verurteilte Wiederbelebungsversuche einer zuvor als hirn- und herztot diagnostizierten Liebe.
Nein, Fauzia. Ich war nie eifersüchtig auf dich als neue Ehefrau. Dass mir das von diversen Seiten unterstellt wurde und noch wird, ist vollkommen lächerlich. Mehr als einmal habe ich deinen Mann oder R. gefragt, ob denn da nicht wieder jemand wäre. Kader strauchelte ziemlich verloren durchs Leben, was angesichts der Tatsache, dass er ja keine Familienangehörigen hier hat, nicht verwunderlich ist. Deshalb hätte ich mich sogar gefreut, von dir zu erfahren, ob du mir das nun glauben magst oder nicht. Es ist mir vollkommen schleierhaft, weshalb Kader und R. dich dermassen verleugnen mussten!
Doch auch dann, als du bereits hier warst, habe ich noch mehrere Anläufe gemacht, damit wir uns zusammen an einen Tisch setzen könnten. Da war immerhin ein Kind, dessen Mutter ich war. Sogar R. ist Zeuge geworden, wie ich deinen Mann mehrfach um ein solches Treffen gebeten habe. Was um alles in der Welt ist in diesem Kader vorgegangen, dass er seinen eigenen Sohn in eine derartige Situation bringen konnte?
Doch jetzt kommst du ins Spiel, liebe Fauzia. Was in aller Welt geht in dir vor, dass du das hier einfach so mitspielst? Spätestens seit dem 16. September 2019 weisst du doch, dass ich kein Monster, sondern eine Mutter bin. Eine Mutter, die ihr Kind ebenso liebt wie du deine Tochter Lynn. Wie kannst du dir also überhaupt anmassen, du könntest R. die Mutter ersetzen? Was würdest du tun, wenn man dir Lynn wegnehmen würde? Würdest du einfach „merci“ und „maktoub“ sagen? Ganz gewiss nicht!
R. hat wegen uns Erwachsenen eine Menge durchleiden müssen in diesen drei vergangenen Jahren. Mit eurem Versteckspiel habt ihr euch nicht wirklich wie erwachsene und damit erziehungskompetente Personen verhalten. Auch ich habe aus den Emotionen heraus das eine oder andere Mal gewaltig über die Stränge geschlagen.
Wir können so weitermachen, Fauzia, doch denk daran, dass jedes Kind irgend einmal nach seinen Wurzeln fragen wird. Was willst du R. dann antworten? Oder willst du dich weiterhin einfach heraushalten und das dem Kader überlassen? Wozu hast du dann einen Kopf mit auf deinen Lebensweg bekommen?
Indem wir tun, was wir tun, und auch indem wir bleiben lassen, was wir bleiben lassen, tragen wir tagtäglich zu unserer eigenen Lebensbilanz bei. Mit dieser Bilanz werden wir eines Tages vor den Schöpfer treten, liebe Fauzia, und er wird mit uns abrechnen.
Wir machen Alle unsere Fehler, und gerade wir Eltern sollten unseren Kindern diesbezüglich nichts vormachen. Auch Erwachsene irren sich gelegentlich und verhalten sich ganz anders, als sie es den Kleinen im Kindergarten oder in der Schule beibringen.
Aber Fehler können wieder gutgemacht werden, solange wir noch im Hier und Jetzt leben. Man kann hingehen und eigene Irrtümer einräumen. Man kann einen Mitmenschen um Entschuldigung bitten, auch wenn der einem fremd ist. Und mann kann Kindern ein gutes Beispiel darin sein, wie man als Erwachsener das eigene Handeln überdenken und es gegebenenfalls korrigieren kann.
Aber weiterhin durchs Leben zu gehen mit der Schuld, einer anderen Mutter ihr Kind weggenommen zu haben, ist keine Option, liebe Fauzia. Der Tag wird kommen, an dem R. auch dir Fragen stellen wird. Und ganz gewiss wird der Tag kommen, an dem dein Schöpfer dich fragt: „Fauzia. Was hast du dazu beigetragen, dass R. seine Mutter nicht länger hassen muss? Hast du R. tatsächlich gesagt und auch gezeigt, wie sehr eine Mutter ihr Kind liebt?“
Liebe heisst nicht nur umsorgen und festhalten. Das ist wichtig, solange Kinder klein und hilflos sind. Doch bald schon wird auch Lynn ihre eigenen Wege gehen, ihre eigenen Abenteuer erleben, ihre eigenen Geheimnisse entdecken wollen. Dann spätestens wirst du lernen müssen, dass lieben auch loslassen bedeutet. Und dass du als Mutter den Mut haben musst, deinem Kind seine ganz eigenen Gedanken, Wünsche und Träume zu lassen.
R. wird euch nicht weniger lieben, wenn ihr ihn dazu ermutigt, wieder mit seiner Mutter, seinen Cousins und mit seinen Grosseltern Kontakt zu haben.
Er wird dadurch auch nicht vom richtigen Weg abkommen. Den Glauben kann man einem Kind nur bedingt lehren; es muss ihn erfahren. Entscheidend ist, wie ihr ihn R. erleben lasst, welches Beispiel ihr ihm auch ausserhalb der täglichen fünf Gebete, also in eurem Alltag, vorlebt. Wir als „die Anderen“ sind dabei nicht die Gefahr, die ihr in uns sehen mögt, sondern es ist unser konsequentes Fehlen. Je rigider ihr R. von uns fernzuhalten versucht, umso mehr wird er später nach dem Anderen, dem Unbekannten, suchen.
Liebe Fauzia! Lass uns das tun, wofür deine Religion steht. Lass uns Frieden schliessen.
Deine Mit-Mutter, am 03.04.2021