26.03.2021 (Abend)

Jetzt beginnt sie wieder, die Rastlosigkeit.

Sie hat sich bisher nach allen Initiativen, die ich zwecks Kontaktwiederaufnahme zu R. unternommen hatte, eingestellt.

Während mein Bewegungsdrang schier unersättlich scheint, kann ich mich kaum länger als fünf Minuten auf einen Text oder einen Podcast konzentrieren. Am Besten geht es mir deshalb draussen, denn da habe ich wenigstens noch das beruhigende Gefühl, Oak etwas Gutes zu tun.

Eigentlich sollte ich mich ja in die juristischen Feinheiten der ausserordentlichen Rechtsmittel hineinfuchsen, eine Argumentation zur (Un)zulässigkeit und zur (Un)zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs nach Eritrea auf Grund der gegenwärtigen Situation erarbeiten oder eine Vernehmlassung zu Artikel 23 über die Ausrichtung der Nothilfe auch in der privaten Unterbringung zu Handen des Bernischen Grossen Rats formulieren.

Nein. An Arbeit fehlte es mir zurzeit bei Gott nicht, aber ich schaffe es nicht, die dafür erforderliche Konzentration aufzubringen. Ja! Seit einer guten Woche fühle ich mich vollkommen erschöpft; hinzu kommen seit einigen Tagen Schlaf- und Appetitlosigkeit.

Gemeinsam mit der Superpsy werde ich diesen Zustand genau im Auge behalten müssen. Zeichnet es sich ab, dass ich es nicht allein herausschaffe, dann werde ich wohl nicht umhinkommen, mir kurzzeitig eine Auszeit zu nehmen.

Die letzten paar Male reichten jeweils einige Tage, bis ich mit Hilfe von genügend Abstand und der daraus resultierenden „Vogelperspektive“ den Alltag wieder anpacken konnte. Eigentlich eine Ressource, finde ich, dieses Wissen um die Möglichkeit, mir bei Bedarf Hilfe holen zu können.

Natürlich sehen das „Fachleute“ wie die Chaudhary oder Florian Huggler wohl anders. Für die ist einmal erschöpft gleich immer problematisch. Die würden wahrscheinlich im eigenen Leben so lange weiterwursteln, bis ihnen entweder der Körper einen Strich durch die Rechnung macht, oder bis Alles um sie herum den Bach runtergegangen ist. Hauptsache, keine Schwächen eingestehen! Nur ja nie Hilfe in Anspruch nehmen! Nur, wer immer alles allein schafft, hat in ihrem Weltbild eine Daseinsberechtigung. Armi Sieche, ehrlich!

Ihr hättet den Tonfall der Chaudhary hören sollen, als sie damals im Juni 2019 dieses letzte Gespräch mit mir führte! „Ja, Frau Djellal…Und da haben wir ja auch immer wieder ihre Erschöpfungszustände…“ Ihre Stimme triefte förmlich vor überheblichem Mitleid.

Heute lache ich über Menschen wie diese Chaudhary. Irgend einmal, spätestens dann, wenn sie in die Jahre kommen, werden nämlich auch sie auf fremde Hilfe angewiesen sein. Dank der modernen Medizin müssen wir uns in diesen Breitengraden Alle ab einem gewissen Zeitpunkt mit der Tatsache auseinandersetzen, dass unsere Körper keine Maschinen sind.

Zuweilen stelle ich mir in einem Anfall sarkastischer Psychohygiene die Chaudhary, den Huggler oder die Stempfel im Altersheim vor. Wie sie da in ihren Rollstühlen sitzen und mit Brei gefüttert werden müssen. Und noch schlimmer: Nicht einmal auf die Toilette werden sie es dann noch selbst schaffen.

Ob sie dann das Glück haben, vom Pflegepersonal mit Respekt behandelt zu werden? Oder werden sie von gestressten, der Deutschen Sprache kaum mächtigen Hilfskräften im Akkordtempo gewaschen, gefüttert und auf die Toilette befördert?

Ich finde, diese Vorstellung hilft Einem ungemein dabei, wenn man die eigene Arbeit mit Klient*innen reflektiert. Kennt man die Position des Hilfesuchenden nicht aus eigener Erfahrung, dann tut man gut daran, einmal das Grosi oder die alte Frau Moser von nebenan im Altersheim zu besuchen. Wenn man sich dann nur für einige Minuten in deren Lage versetzt, wird man ganz demütig. Man hört auf, über Andere zu urteilen, denn man realisiert plötzlich, wie hilflos und verletzlich wir in diese Welt hineinflutschen, und wie zerbrechlich und ausgeliefert wir diese auch wieder verlassen werden.

Ich habe es in einem früheren Beitrag ja bereits geschrieben. Um Hilfe zu bitten, ohne dabei die eigene Würde preiszugeben, ist eine Kunst, die gelernt sein will.

Sie setzt zunächst das Bewusstsein für die eigene Begrenztheit voraus; die Begrenztheit aber können nur wir selbst als Betroffene definieren; ansonsten laufen wir Gefahr, dass uns unsere Grenzen von mehr oder weniger wohlmeinenden Zeitgenossen aufoktroyiert werden. Dieses Erforschen der eigenen Grenzen geht kaum, ohne dass wir uns dabei Knie, Kopf und Seele blutig stossen.

In einem nächsten Schritt müssen wir lernen, die eigenen Bedürfnisse zunächst wahrzunehmen; nur so ist es uns möglich, unsere Bitten daraufhin präzise formulieren zu können. Die meisten Menschen helfen zwar gerne, doch Helfer, die nicht wissen, wie sie helfen sollen, sind in der Regel sofort überfordert.

Um die gewünschte Hilfe zu erhalten, tun wir als Hilfesuchende also gut daran, unsere Helfer anzuleiten. Das bedingt nicht nur, sprachlich eloquent und effizient zum Ausdruck zu bringen, was wir brauchen. Dabei ist es von grossem Vorteil, wenn wir die Helfenden auch emotional „abholen“ können.

Dazu müssen wir in Sekundenschnelle erkennen, wer da vor oder neben uns steht. Jung oder alt? Bildungsnah oder bildungsfern? Sicher oder unsicher im eigenen Auftreten? Geschickt oder unbeholfen im Umgang mit Fremden? etc.

Wenn ich all diese Komponenten beherrsche, stehen meine Chancen nicht schlecht, in Würde um Hilfe bitten zu können; nicht nur für mich, sondern auch für die helfende Person schaffe ich dabei eine positive Begegnung, die unter Umständen sogar noch mit einem kurzen Plausch übers Wetter aufgelockert werden kann.

Ach ja! Ein gutes Allgemeinwissen und ein grundsätzliches Interesse am Tagesgeschehen vereinfachen das Hilfesuchen im Übrigen sehr. Wer fühlt sich denn schon wohl, wenn er – vielleicht sogar über mehrere Minuten hinweg – eine stumme Blinde zur richtigen Adresse geleiten muss? Die Zeit vergeht für beide Beteiligten definitiv schneller, wenn man dabei ein kleines Gespräch führen kann – zur Not eben über den süssen schwarzen Hund an der Leine, die lästigen Gesichtsmasken, unter denen man so schlecht Luft kriegt, oder dann halt meinetwegen auch übers Wetter. Hauptsache, die Blindheit, der eigentliche Grund für mein Hilfe-Ersuchen, ist während der Hilfestellung nicht ununterbrochen Thema!

Tja! Und jetzt habe ich mich Heute doch noch auf etwas konzentrieren können! Aber Psssst! Diese Geheimnisse übers Hilfe-Annehmen teilen wir weder mit der Chaudhary, noch verraten wir sie dem „Fachgutachter“ Florian Huggler!

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