Nach dieser ausführlichen Diskussion zum Parental Alienation Syndrome (PAS) stellt sich natürlich die Frage, welche Alternativen Autorin Simoni zum problematischen Konzept Gardners vorschlägt, wenn Psychologen, Beistände und Gerichte es mit Kindern in hochkonflikthaften Trennungssituationen zu tun bekommmen. Wie kann auf eine drohende oder bereits begonnene Entfremdung des Kindes zu einem Elternteil reagiert werden?
Die Autorin bezieht sich in ihrer Auseinandersetzung zunächst auf die Forscherinnen Kelly und Johnston, welche sich seit Langem sowohl praktisch als auch empirisch mit Scheidungsfamilien beschäftigten. Zunächst müsse bei der Evaluation einer Situation die Haltung des Kindes auf einer Skala aufgezeigt werden; die Aussagen des Kindes würden irgendwo zwischen „Kontakt zu beiden Eltern“ und „keinen Kontakt zu X“ ausfallen. Herrschte beim betroffenen Kind im Falle einer kategorischen Kontaktverweigerung auch noch das Fehlen jedweder Ambivalenz, dann wäre das Ende des Entfremdungsprozesses erreicht. Diese Entfremdung, gepaart mit fehlender Ambivalenz, müsse als Reaktion des Kindes auf eine für es beängstigende Scheidungssituation gewertet werden.
Während nach Kelly und Johnston in einem ersten Schritt die Äusserungen des Kindes bezüglich beider Elternteile festgehalten werden müssten, müssten in einem zweiten Schritt die seiner Haltung zugrunde liegenden Motive sorgfältig analysiert werden. In Fällen von gravierender Entfremdung seien daher kinderpsychiatrische Abklärungen dringend angezeigt, zumal dadurch z. B. auch ein eventuell vorliegender, tatsächlicher Missbrauch ausgeschlossen bzw. bestätigt werden könnte.
Gemäss Sponsel muss der Schweregrad der Entfremdung zunächst anhand
- der Plötzlichkeit,
- von (nicht) nachvollziehbaren Gründen sowie
- dem Ausmass der Kontaktverweigerung
festgestellt werden. Erst danach sollten die Prozesse, die dazu geführt haben, genauer analysiert werden.
Einer empirischen Untersuchung von Johnston bei 215 Kindern ist zu entnehmen, dass 10% einen Elternteil vehement ablehnten; die Ursachen dafür waren mannigfaltig und lagen nicht – wie bei PAS vorausgesetzt – in der einseitigen Indoktrinierung durch einen Elternteil begründet. Vielmehr habe der entfremdete Elternteil durch defizite in seinem Erziehungsverhalten dazu ebenso beigetragen wie der verbündete Elternteil, der durch sein Verhalten nach einer Trennung eine Änderung dieses Verhaltens beim Entfremdeten verhinderte. Familientherapeutische Interventionen müssten deshalb das gesamte System miteinbeziehen.
Laut Kelly und Johnston sind pathologische, also komplette und durch mangelnde Ambivalenz gekennzeichnete Beziehungsabbrüche durch Kinder seltener, als dies von Befürworter*innen des „PAS“-Konzepts postuliert würde. Oft seien sie das Resultat von Prozessen, die auf Grund der höchst aufwändigen Begleitung hochstrittiger Elternpaare durch Fachleute missglückt seien und deshalb in einer Überforderung des Kindes resultierten. Diese Überforderung könne dann aber in einer erstarrten Ablehnung des entfremdeten Elternteils münden, die eine Annäherung des Kindes unnötig lange hinauszögere.
Will eruiert werden, unter welchen Umständen welche Interventionen zur Wiederherstellung eines Kontaktes ins Auge gefasst werden können, müssten zuvor die vom Kind als traumatisch wahrgenommenen Erlebnisse aufgearbeitet werden.
Kinder, die sich quasi aus der Not heraus von einem Elternteil losgesagt hätten, würden ihren Weg im Jugend- oder Erwachsenenalter gewöhnlich wieder zurückfinden.
Fazit der Autorin
Entfremdungsprozesse zwischen getrennten Eltern müssen Fachpersonen beschäftigen. Psychologisches müsse dabei mit juristischem Fachwissen verknüpft werden, und die Fachleute beider Disziplinen seien angehalten, sich gegenseitig zu ergänzen.
Für die Autorin ist das „PAS“-Konzept ein Ausdruck für die höchst anspruchsvollen Herausforderungen, welche die Arbeit mit getrennten und geschiedenen Eltern an Fachleute stellte. Das „Rezept des PAS“ trage diesen Herausforderungen jedoch ungenügend Rechnung.
Folgende psychologische Überlegungen könnten in der Arbeit mit Kindern in Entfremdungsprozessen Laut Simoni aber hilfreich sein:
- Trennungs- und Scheidungsprozesse führen beim Kind zu psychischen Turbulenzen, welche sich natürlich auch auf die Beziehung zu den Elternteilen auswirken;
- Geschlechtsspezifische und altersbedingte Faktoren haben Einfluss auf das Bündnisverhalten von Kindern;
- Eeigenmotivirte Gründe des Kindes müssten eruiert und berücksichtigt werden;
- Die Distanzierung des Kindes kmüsse als Hilferuf gegen ein schädliches Verhalten eines Elternteils verstanden werden;
- Die Distanzierung in Folge von Trennungssituationen sei auch insofern ein Hilferuf, als dass die Konflikte zwischen den Eltern für das Kind überfordernd sein können;
- Die Frage ist, ob das Kind die Situation allein verarbeiten kann, oder ob es dazu Hilfe benötigt; ein Hinweis für Zweiteres ist das Fehlen jeglicher Ambivalenz gegenüber dem Elternteil, zu dem der Kontaktabbruch erfolgt ist bzw. gegenüber der gesamten familialen Situation;.
- Auch bei den Eltern müsse die Fähigkeit vorhanden sein, die diversen Facetten der familialen Situation wahrzunehmen und zu reflektieren.