21.03.2021 (Mittag)

Die Methoden, welche entfremdende Eltern laut den Befürwortern des Konzepts anwendeten, entstammten den bekannten Techniken der „Gehirnwäsche“. Die Kinder würden dadurch darauf programmiert, die Sichtweise des Entfremders zu übernehmen. Hinzu kämen typische double-bind-Botschaften (etwas sagen, das Gegenteil durch Körper- oder Erwartungshaltung ausdrücken) sowie die vom Psychologen Rogers 1992 definierten fünf Typen des emotionalen Kindsmissbrauchs: Zurückweisung, Terrorisieren Ignorieren, Isolieren und Bestechen.

Die Frage, weshalb Eltern Kinder entfremden, wird mit der nicht oder nur unzureichend verarbeiteten Trennung und mit aus der Kindheit stammenden Verlustängsten begründet. Hinzu kämen psychische Vorerkrankungen der Eltern, so z. B. eine Borderline-Störung.

Bei Kindern bis zu zehn Jahren sei es für Aussenstehende kaum möglich, zwischen den Kindern vom Entfremder eingetrichterten Fantasien und tatsächlich erlebten (Missbrauchs(Erlebnissen mit dem entfremdeten Elternteil zu unterscheiden.

Das PAS-Konzept ist gemäss der Autorin in seiner Rezeption unter Fachleuten höchst umstritten. Studien, welche die Existenz von „PAS“ belegen sollten, hätten das Konzept unhinterfragt zugrunde gelegt. Nur wenige Befürworter hätten sich inhaltlich mit der Kritik am Konzept auseinandergesetzt und daraufhin zu einem sorgfältigeren Umgang mit der Diagnose geraten.

In der Schweizer Rechtsprechung hat sich nach Simoni 2005 erst ein kantonales Obergericht ausführlich mit der Entfremdung eines betroffenen Mädchens beschäftigt. In ihrem Bericht kamen die verantwortlichen Beiständinnen zum Schluss, dass zwar keine Umplatzierung, jedoch Kindesschutzmassnahmen dringend angezeigt seien, sollte das Kind dereinst ein einigermassen realistisches Bild von der Beziehung zwischen den Eltern und auch vom entfremdeten Elternteil entwickeln können.

Die Kritik am Konzept

Gardners Konzept der induzierten Eltern-Kind-Entfremdung (PAS) wird von Fachleuten aus der Rechtsprechung, der Soziologie sowie der Psychologie aus unterschiedlichen Gründen kritisiert. Während sich einige Wissenschaftler und Praktiker kategorisch gegen die Verwendung des „PAS“ stellen, beschränkt sich die Kritik anderer Fachleute auf ganz bestimmte Punkte. Niemand jedoch, so betont die Autorin, bestreite hierbei die Existenz dysfunktionaler – also schädlicher – Eltern-Kind-Beziehungen.

Die folgenden vier Kritikpunkte werden häufig genannt:

  1. Der Prozesscharakter familialer Beziehungen werde im PAS-Konzept ungenügend berücksichtigt, da ein Elternteil für schuldig erklärt und damit von vornherein als erziehungsungeeignet abgestempelt werde;
  2. Der Kindeswille werde mangelhaft berücksichtigt, weil die Äusserungen betroffener Kinder vorschnell als manipuliert und deswegen unzuverlässig abgetan würden;
  3. Die Empfehlungen zur Ergreifung von (einschneidenden) Kindesschutzmassnahmen seien undifferenziert und
  4. die Störung an sich sei viel zu ungenau definiert, um bei der Diagnostik herangezogen werden zu können.

1. (Un)Wissenschaftlichkeit

Indem die Anhänger*innen des „PAS“ lediglich vom Einzelfall (Beobachtungen anhand von Fallbeispielen) auf die Richtigkeit ihrer Theorie schlössen, seien die so gewonnenen Hypothesen hingegen nie empirisch anhand der Theorie an Fallbeispielen nachgewiesen worden. Diese „Gegenprobe“ (induktiv vs. deduktiv) sei jedoch aus wissenschaftlicher Sicht zur Validierung einer Theorie unbedingt erforderlich.

Symptome und Ursachen würden in der Konzeptuierung Gardners zudem vermischt, und das Kontinuum des Entfremdungsprozesses werde mit dem Syndromkonzept nicht berücksichtigt.

2. untaugliches Syndromkonzept

Indem Entstehung, Ursachen und Auswirkungen in Gardners Konzept auf unzulässige Weise vermischt würden, verlöre das Syndrom damit seine Anwendbarkeit. Zudem fehlten Angaben dazu, wie viele Kriterien zur Diagnostik erfüllt werden müssten.

Ausserdem würde unzureichend zwischen Entfremdung an sich und induzierter Eltern-Kind-Entfremdung unterschieden. Indem der Entfremdungsprozess an sich bereits als induziert betrachtet werde, verunmögliche dies eine klare diagnostische Abgrenzung.

Zuletzt weist Simoni auf den Widerspruch zwischen Gardners Postulat, „PAS“ könne im Zusammenhang mit tatsächlich erfolgter körperlicher oder sexueller Misshandlung selbstverständlich nicht herangezogen werden, während er unterstellt, dass erfundene Vorwürfe diesbezüglich geradezu ein charakteristisches Merkmal des Syndroms seien, hin.

Problematisch sei auch die pauschale Unterstellung, dass alle programmierten Kinder den anderen Elternteil ablehnten, während die kategorische Ablehnung eines Elternteil erwiesenermassen auch bei nichtprogrammierten Kindern vorkomme.

Gleichermassen verhalte es sich mit der als Ursache für induzierte Entfremdung angegebenen Unfähigkeit des entfremders, die Trennung verarbeitet zu haben. Auch hier fehle ein wissenschaftlich erwiesener Zusammenhang.

Die Begriffe Programmierung und Gehirnwäsche, welche im Zusammenhang mit „PAS“ verwendet würden, setzten beabsichtigte Handlungen des entfremdenden Elternteils voraus; dies sei jedoch zu pauschal, und ausserdem seien die Begriffe auch sehr demagogisch gewählt. Zwar würden entsprechende Handlungen entfremdender Eltern anekdotisch beschrieben, sie könnten von den Befürwortern des Konzepts aber nicht empirisch nachgewiesen werden.

Die von den Kindern gezeigten Verhaltensweisen seien viel zu unspezifisch, als dass man daraus klar auf eine induzierte Eltern-Kind-Entfremdung schliessen könne; überdies sei die Abgrenzung zu Verhaltensweisen, wie sie von tatsächlicher Gewalt und Misshandlung betroffene Kinder zeigen, für den Beobachter kaum erkennbar.

Fegert, ein scharfer Kritiker des „PAS“ aus dem deutschsprachigen Raum fasst sein Unbehagen dem Konzept gegenüber wie folgt zusammen: «PAS ist kein diagnostisches Kriterium. Die Beschreibung ermöglicht nicht einmal die Differenzierung zwischen Reaktionsweisen, Abwehrmechanismen und Verhaltensweisen, die durch real begründete Ängste ausgelöst wurden, von

angeblich induzierten Verhaltensweisen. Insofern drängt sich der Verdacht auf, dass gerade die unpräzise, generell beschreibende Natur ‹PAS als Begrifflichkeit

zwar klinisch untauglich macht, aber seine hervorragende Eignung als taktische Waffe im Umgangsstreit bestimmt.»

Unzulässige Rückschlüsse auf psychiatrische Erkrankungen

Als besonders problematisch erachtet es die Autorin, dass mit dem „PAS“-Konzept aus dem Verhalten von Kindern automatisch Rückschlüsse auf angeblich zugrunde liegende psychische (Vor)Erkrankungen beim entfremdenden Elternteil gezogen werden. Simoni räumt ein, dass psychiatrische Erkrankungen zwar für dysfunktionale Eltern-Kind-Beziehungen verantwortlich sein könnten, es jedoch nicht zwingend sein müssten. Solch ein Rückschluss sei insofern gefährlich, als dass darauf basierend vorschnell Konsequenzen für allfällige Interventionen beschlossen werden könnten.

Die leichtfertige Nennung von schweren psychiatrischen Störungen wie Paranoia oder „Folie à deux“ im Zusammenhang mit „PAS“ sind aus Sicht von Psychologin Simoni unverantwortlich, während die ebenfalls oft in diesem Kontext genannte Borderline-Störung von „PAS“-Befürwortern beinahe ebenso inflationär diagnostiziert werde wie die induzierte Eltern-Kind-Entfremdung.

Aus psychiatrisch-psychologischer Perspektive ist eine sorgfältige Abklärung vor einer Diagnosestellung unverzichtbar; genauso wichtig sei ein genauer Blick auf alle drei Beteiligten (beide Eltern und das betroffene Kind), bevor ein Elternteil mitsamt dem Kind vorschnell als krank abgestempelt werde.

Weil „PAS“ vornehmlich in der Männer– und Väterbewegung Anklang findet, hält Fegert es einerseits für einen Ausdruck in einem laufenden Geschlechterkampf, welcher auf dem Buckel betroffener Kinder ausgetragen werde, andererseits sieht er darin ein Indiz für eine unzureichende Abgrenzung der befürwortenden Fachleute in den ohnehin schon oft durch gegenseitige Entwertung charakterisierten Obhuts- und Sorgerechtsstreitigkeiten.

Missachtung entwicklungsabhängiger Einflüsse

Die in Teil 2 von Simonis Arbeit erläuterten, altersabhängigen Entwicklungsschritte von betroffenen Kindern würden im „PAS“-Konzept nicht berücksichtigt. Vielmehr werde pauschal davon ausgegangen, dass die induzierte Eltern-Kind-Entfremdung bei Kindern zwischen zwei Jahren und der Volljährigkeit auftreten könne.

Weder die launenhafte, situationsabhängige und dadurch wechselhafte Beziehungsgestaltung von Kleinkindern noch die rationale Parteinahme von Jugendlichen liessen sich aber mit der Hypothese von der Programmierung durch den entfremdenden Elternteil vereinbaren. Lediglich die zu Bündnissen neigenden 8 bis 12jährigen wären aus entwicklungspsychologischer Sicht zwecks Bewältigung schwieriger Situationen für eine unhinterfragte Parteinahme für den Entfremder mit gleichzeitiger kategorischer Ablehnung des entfremdeten Elternteils anfällig.

Kleinkinder seien gemäss einer weiteren Abhandlung gar noch nicht in der Lage, die für eine Entfremdung gemäss „PAS“ notwendigen Drehbücher im Gedächtnis zu behalten. Verlustängste bei Übergaben mit der Gefahr einer daraus resultierenden Entfremdung könnten überdies nur bei betroffenen Kleinkindern auftreten, wenn diese zuvor zu keinem der beiden Elternteile eine ausreichend sichere hätten aufbauen können.

Entwertung des Willens betroffener Kinder

Im Hinblick auf den geäusserten Kindeswillen wird angeführt, dass dieser in für das Kind überfordernden Situationen ohnehin beeinflussbar sei; er brauche daher nicht zwangsläufig die mittel- oder langfristigen Kindesinteressen widerzuspiegeln. Erziehung sei per se ohnehin stets mit Beeinflussung verbunden, und  rationale gegenüber emotionalen Willensbekundungen höher zu gewichten sei gemäss den Kritikern problematisch.

Zudem entwerte der abgelehnte Elternteil das Kind, indem er seine Zurückweisung lapidar als Resultat einer Gehirnwäsche abtue; aus diesem Gefühl der Entwertung heraus könne das Kind sich veranlasst sehen, seine Zurückweisung noch stärker zum Ausdruck zu bringen.

dass die Debatte um die Existenz von „PAS“ so sehr polarisiert werde, berge zwei Risiken:

  • „Risiko 1 = Die isolierte Sicht auf den Teilzusammenhang «Manipulation durch Elternteil – Anpassung des Kindes» führt zum Übersehen und Zerstören von Bewältigungsprozessen des Kindes.
  • Risiko 2 = Die isolierte Sicht auf den Eigenbeitrag des Kindes (Anpassung des Kindes, Bewältigung und Willensbildung durch Kind) führt zur Unterschätzung
  • der psychischen Gefährdung des Kindes.“

Wenn das Kind in seiner Willensbildung als passiv abgewertet werde, werde den kindlichen Kompetenzen und Bewältigungsstrategien zu wenig Gewicht beigemessen.

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