Im heutigen Blog-Beitrag befasse ich mich mit einem relativ alten Artikel, der aber noch immer grossen Einfluss und eine weite Rezeption geniesst. Verfasst worden ist er von der gegenwärtigen Direktorin des Marie Meierhöfer Instituts, der Psychologin Heidi Simoni, und publiziert wurde er 2005 in
, einer Fachpublikation zum Familienrecht.
Den Originalartikel findet man unter Anderem aber auch hier:
https://www.ombudsstelle-kinderrechte-schweiz.ch/wissensportal/beziehung-und-entfremdung
Solltet ihr die Musse haben, ihn ganz zu lesen, kann ich euch dies auf Grund seiner breiten Rezeption (z. B. unter Kinderanwält*innen oder Gutachtern) wärmstens empfehlen.
Wie versprochen möchte ich euch heute eine Zusammenfassung des ersten Teils dieses 30seitigen Artikels liefern, um dann in den Folge-Beiträgen das Konzept des „Parental Alienation Syndrome“ (PAS) näher vorzustellen. Im letzten Teil ihres Beitrags geht Heidi Simoni dann auf dessen Erforschung und Rezeption in der Fachwelt und nicht zuletzt auf seine zahlreichen Kritiker näher ein. Kritisch steht der Nützlichkeit des „PAS“ für die kinderpsychologische Praxis ja auch die Direktorin des Marie Meierhöfer Instituts gegenüber.
Beziehungen
2003 waren über 12’000 minderjährige Kinder in der Schweiz von der Scheidung ihrer Eltern betroffen. Trennungen und Scheidungen stellen nach Simoni heikle Übergangsphasen dar, doch die Autorin legt Wert darauf, diese Phasen auch explizit als eine Chance zur Reorganisation eines bestehenden Familiensystems zu verstehen.
2005, als Simonis Artikel publiziert wurde, wurde die Diskussion zum elterlichen Entfremdungssyndrom (PAS) in der Schweiz noch kaum geführt. Die Mehrzahl der hierzu vorhandenen Studien wurden von interdisziplinären Forschungsteams durchgeführt. Wie umstritten das Konzept ist, zeigt u. A. eine kritische Betrachtung unter dem Titel „Parental Alienation (Entfremdung) vs. accusation (Beschuldigung) Syndrome“.
Der Psychologin Heidi Simoni ist es daher wichtig, das Konzept aus einem rein psychologischen Blickwinkel heraus zu beleuchten.
Beziehungen sind für Kinder lebenswichtig. Die Qualität und die Intensität einer Beziehung zu einer erwachsenen Bezugsperson misst sich an drei Komponenten: der Zugänglichkeit, dem Engagement und der Verantwortungsübernahme im Alltag.
Für eine gesunde Entwicklung braucht ein Kind mindestens eine verlässliche Bezugsperson. Deren Existenz ist die Voraussetzung dafür, dass ein Kind später eine gewisse Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegen allerlei Unbill im Leben entwickeln kann. Beziehungen müssen vom Kind als sinnvoll, quasi als eine Art roter Faden, erlebt werden.
Ab dem ersten Lebensjahr unterscheiden Kleinkinder zwischen Vertrautem und Unvertrautem, bis zum 3. Lebensjahr können sie ihre Bezugspersonen als stabile Präsenz wahrnehmen, selbst wenn diese vorübergehend nicht verfügbar sind oder wenn das Kind gerade in einem Konflikt zu ihnen steht.
Ob die primäre Bezugsperson eines Kindes nun der Vater oder die Mutter ist, scheint gemäss der 2005 verfügbaren Forschung zweitrangig zu sein.
Schon früh sind Kinder auch in der Lage, Beziehungen zu anderen Kindern aufzubauen. Dabei sind die Beziehungen zu älteren Kindern meist hierarchisch, während diejenigen zu Gleichaltrigen eher ebenbürtig sind.
In Beziehungen sind die folgenden Aspekte wichtig:
a) Sicherheitsbedürfnis vs. Neugier
Diese widerstreitenden Bedürfnisse stehen sich wie die Seiten einer Wippe gegenüber; einmal überwiegt das Bedürfnis nach Schutz, einmal der Explorationsdrang. Was gerade überwiegt, hängt von der jeweiligen Entwicklungsphase, dem Temperament des Kindes und den Rahmenbedingungen ab, unter denen es aufwächst. Sicherheit heisst dabei Schutz, Neugier verspricht Entwicklung. Das Ausleben des Entdeckungsdrangs ist vor allem in der Beziehung zu anderen Kindern möglich.
b) das Konzept der Bindung
Bindung ist Laut Simoni nicht gleichzusetzen mit dem Begriff der Beziehung. Bindung im psychologischen Kontext hängt mit dem kindlichen Sicherheitsbedürfnis zusammen, welches nahe Bezugspersonen mehr oder weniger gut zu befriedigen vermögen.
Sichere Bindungen benötigen Kinder immer dann, wenn ihr Sicherheitsempfinden auf Grund innerer oder äusserer Irritationen (Müdigkeit, Verletzung, etc.) aus dem Lot gerät. Schon früh entwickeln kleine Kinder zu ihren verschiedenen Bezugspersonen deshalb Bindungsmuster, um so derartige Herausforderungen bewältigen zu können. Bindungsmuster können sich im Lauf des Lebens verfestigen, aber auch verändern.
c) Triadische Beziehungen
Im Gegensatz zu diadischen Beziehungen (Kind zu Eltern) sind triadische Beziehungen umfassender. Sie schliessen Drittpersonen (Verwandte, externe Betreuungspersonen, etc.) mit ein. Diese triadischen Beziehungen können für Kinder besonders nach Trennungen wichtig werden, da diese ja meist mit grossen Verunsicherungen verbunden sind.
Die triadischen Beziehungen werden überdies wichtig beim Verständnis von Entfremdung.
Kinder können schon früh mit zwei Bezugspersonen gleichzeitig kooperieren. Die Beziehung zwischen diesen beiden Personen (z. B. Eltern) ist aber entscheidend für das Gelingen einer Interaktion.
Unter der triadischen Kapazität versteht man die Fähigkeit eines Elternteils, auch Beziehungen zwischen dem Kind und anderen Erwachsenen zulassen zu können. Die Einstellung des Elternteils den Anderen gegenüber ist dabei entscheidend. So führt mangelnde triadische Kapazität zu offensivem Ausschluss oder defensivem Rückzug.
„Die Triadische Kapazität ist eine mentale Ressource, die sich aus verschiedenen Quellen speist:
a) aus der Verarbeitung der Erfahrungen aus der eigenen
Kindheit mit verschiedenen wichtigen Personen,
b) aus der eigenen Identität und dem Selbstwert im Verhältnis zu andern Menschen, c) aus den kommunikativen Fähigkeiten mit Kindern und Erwachsenen sowie
d) aus dem Umgang mit widersprüchlichen Vorstellungen und Gefühlen.“
Triangulierung bedeutet aus psychologischer Sicht die Fähigkeit des Kindes, Beziehungen zu mehreren Bezugspersonen unterhalten zu können.
Trennungen aktivieren i. d. R. das Sicherheitsbedürfnis des Kindes, vorausgesetzt, dass zuvor keine überfordernden Situationen (z. B. häusliche Gewalt) die Elternbeziehung prägten. Familienangehörige und weitere Bezugspersonen übernehmen in Phasen der Trennung eine wichtige Rolle, da sie mit verlässlichkeit das Sicherheitsbedürfnis und mit dem Ermöglichen von neuen Erfahrungen den Explorationsdrang des Kindes befriedigen können. Ausführliche Gespräche Diskussionen über die Trennung und deren Gründe seien dagegen wenig hilfreich.
Eltern in Trennung sind insofern gefordert, weil sie trotz negativen Gefühlen Beziehungen zum anderen Elternteil und zu mit ihm assoziierten Drittpersonen zulassen sollten.
Zur pauschalen Beantwortung der Frage, welcher Elternteil nach einer Trennung der geeignetere sei, sind die Kindlichen Bedürfnisse viel zu komplex. Die Beurteilung hängt von zahlreichen Faktoren ab.
Fazit
„Zusammenfassend kann zur Bedeutung verschiedener Beziehungen für die kindliche Entwicklung festgehalten werden, dass Kinder mindestens eine Person brauchen,
die ihnen emotionale und materielle Sicherheit und Orientierung vermittelt sowie ihr Bedürfnis nach Anregung stillt. Da keine einzelne Person diesem Anspruch
umfassend eine Kindheit lang genügen kann, schon gar nicht beim Vorliegen von Belastungen, sind weitere vertraute Personen unabdingbar. Ihr Fehlen stellt
einen Risikofaktor für die kindliche Entwicklung dar, besonders dann, wenn innere barrieren und nicht äussere Gründe zu dieser Situation führen. Es scheint,
dass die angeborene Fähigkeit von Kindern, sich auf mehr als eine Person einzulassen, eine Art Lebensversicherung darstellt. Kinder profitieren, wenn sie
zu Mutter und Vater eine lebendige Beziehung aufbauen und pflegen können. «Ein Kind braucht beide Eltern» bedeutet in erster Linie, dass es Gelegenheit erhalten muss, ein geklärtes Verhältnis zur eigenen Geschichte, also auch zu seinen biologischen und sozialen Eltern, zu finden.“