Den heutigen Artikel zu lesen hat mich traurig gemacht. Mir ist nochmals deutlich geworden, dass dies alles hätte verhindert werden können, hätte ich als Mutter nur rechtzeitig Unterstützung und Information erhalten.
Dabei habe ich nach Marie alles richtig gemacht; ich habe dich, R., in einem sorgfältig aufgebauten und gepflegten Netz von Bezugspersonen aufwachsen lassen. Nie habe ich mir eingebildet, nur ich als deine Mutter könnte dir alles bieten und beibringen, was du für dein künftiges Leben brauchen würdest.
Als du klein warst, habe ich rechtzeitig einen KiTa-Platz für dich organisiert. Dein Grosi wollte keinen festen Hütetag, und mir war klar, dass ich für unseren Lebensunterhalt aufkommen musste.
Mit deinem KiTa-Platz hatten wir ein Riesenglück! Nicht nur konntest du dort bis zu deinem Schuleintritt bleiben, wenn ich arbeiten musste, ihr hattet auch den Wald gleich vor der Türe. So war es üblich, dass ihr mindestens einmal pro Tag nach draussen zum Spielen, Herumtoben und Entdecken gehen konntet.
Auch an männlichen Bezugspersonen fehlte es in dieser KiTa nicht. A., die herzige junge Leiterin gestand mir gegenüber einmal ein, dass sie fast schon etwas neidisch auf die Jungs war, die bei euch ihren Zivildienst ableisteten. Die waren bei euch nämlich besonders beliebt, weil ihr mit ihnen richtig toben und raufen konntet.
Als du noch klein warst, hatten wir mit C. und N. zudem für einen Tag pro Woche Assistentinnen zu Hause. Die beiden ausgebildeten Kleinkindererzieherinnen waren richtige Perlen und ermöglichten uns, fremde Umgebungen zu erkunden, zu basteln oder gemeinsam schwimmen zu gehen. All dies zu organisieren war für mich als vollblinde Mutter mit Aufwand verbunden, aber es war mir immer wichtig, auch diese Kindheitserlebnisse mit dir teilen zu können. C. und N. waren Beide professionell genug, sich bei unseren Aktivitäten im Hintergrund zu halten und mich so in meiner Mutterrolle zu unterstützen.
Auch bei deinen Grosseltern warst du oft, und als du zwei Jahre alt warst, kam dein kleiner Cousin aus Vietnam dazu. Eine zeitlang wart ihr sogar zusammen in der KiTa, und später habt ihr die Leidenschaft für Fussball und YB geteilt.
Deine Grosseltern waren ebenfalls wichtige Bezugspersonen. Mit ihnen konntest du nicht nur mehrmals nach Südafrika reisen; auch viele Erinnerungen aus dem elterlichen Garten oder von gemeinsamen Ausflügen finden sich in meinem Fotoalbum für dich.
Dein Vater war immer präsent, allerdings leider nicht als verlässlicher Bestandteil im Bezugspersonennetz. Deshalb habe ich die Planung vorsichtshalber immer so machen müssen, dass jemand einspringen konnte, wenn er grad einmal keine Lust hatte. Das war anstrengend, und zeitweilig hat es auch zu Spannungen zwischen mir und deiner Grossmutter geführt. Dazu kam der Spagat, den wahrscheinlich jede berufstätige Mutter macht, immer vom Gefühl begleitet, nirgends wirklich ausreichend präsent sein zu können.
Seit du auf der Welt warst, gab es immer wieder mal Reibereien zwischen deinem Vater und mir. Diese verstärkten sich immer dann, wenn die finanzielle Situation wieder einmal angespannt war, oder aber wenn er auf Grund seiner Arbeitslosigkeit zu viel Zeit in der Moschee verbrachte. Dann begann er, sich in mein Leben einzumischen, mir zu unterstellen, ich kümmerte mich zu wenig um dich.
Im Dezember 2013 unterschrieben wir gemeinsam eine Trennungskonvention. Zu diesem Zeitpunkt hatte er endlich die Niederlassungsbewilligung erhalten, ein Jahr später als üblich, weil er noch immer sozialhilfebezüger war. Irgendwie tat er mir leid, wie er da so verloren durchs Leben irrte, aber zuweilen setzten mir die andauernde Verantwortung, gepaart mit wenig Unterstützung seinerseits, doch sehr zu. Als sich die Streitereien wieder zu häufen begannen und du, R., offenkundig darunter zu leiden begannst, wandte ich mich im November 2014 auf der Suche nach Unterstützung an die KESB.
Sechs Monate dauerte es, bis ein gemeinsames Gespräch dort stattfinden konnte. Die Streitpunkte waren dieselben geblieben: Finanzielle und religiöse Unstimmigkeiten. Eine Beistandschaft wurde errichtet, und Nathalie Chaudhary vom Sozialdienst Jegenstorf übernahm das Mandat.
Zu dieser Zeit absolvierte ich gerade ein CAS in interkultureller und interreligiöser Mediation. Das Verfahren gefiel mir, weil es einem erfahrenen Mediator gelingen kann, zerstrittene Parteien auf der Suche nach Lösungen zu begleiten und zu einem Kompromiss zu führen, der für beide Seiten ohne Gesichtsverlust annehmbar ist. Ich hatte kein Interesse daran, deinen Vater, der ohnehin kaum Selbstvertrauen hatte, zu unterwerfen, aber meine Ressourcen waren zu begrenzt, als dass ich ihn ganz aus der Verantwortung entlassen mochte.
Doch nun erlebte ich zum ersten Mal die Unwirksamkeit der KESB und ihrer Beistandspersonen. Nein, meinte Nathalie Chaudhary, eine Mediation könne finanziell nicht übernommen werden. wenn schon müsste ich die aus eigenen Mitteln finanzieren.
Wie bitte schön? Aus welchen Mitteln denn, hatte mir die Ausgleichskasse 2016 doch zum ersten Mal die Ergänzungsleistungen so stark gekürzt, dass mir nichts Anderes mehr übrig blieb, als R. und mich beim Sozialdienst anzumelden.
Die scheinbare finanzielle Ausweglosigkeit führte im Oktober 2016 auch dazu, dass ich mich kurzzeitig in stationäre Behandlung begeben musste. Ich konnte Nachts kaum mehr schlafen, wurde immer gereizter und hatte Angst, diesen Stress auch auf dich zu übertragen. Bei der Suche nach einem Ferienplatz für dich wurde ich erneut allein gelassen. Dein Vater hatte endlich Arbeit gefunden, und der Sozialdienst weigerte sich, anfallende Kosten zu übernehmen. Zum grossen Glück sprangen schliesslich H. und ihr Mann ein, die ich übers Assistenzbudget einstellen konnte!
Zur gleichen Zeit begannst du, seltsame Ängste vor Geistern und Teufeln zu entwickeln, die in der Kanalisation oder in der Dusche hausen sollten. Ich wusste natürlich, woher diese Furcht vor Dschinnen stammte, und so bat ich deine Beiständin, das Thema mit deinem Vater zu besprechen. Für mich als Mutter war es offensichtlich, wie stark dich diese Ängste beschäftigten.
Aber nein! Selbstverständlich muss man religiöse Vorstellungen, auch wenn sie noch so sehr dem Reich des Aberglaubens entspringen, akzeptieren. Auch, dass dein Vater wegen des am Ende dann doch verschlafenen Moscheebesuchs am Zuckerfest verhinderte, dass du im Sommer 2016 wie geplant dein Schwimmabzeichen machen konntest, hatte ich hinzunehmen. Dass ich für den Kurs bezahlt hatte – Geld, das mir damals wirklich an allen Ecken und Enden fehlte – war für Nathalie Chaudhary Nebensache. Dass sich dein Vater zuvor trotz der Affenhitze während des gesamten Ramadans geweigert hatte, mit dir schwimmen zu gehen und die Aufgabe damit an mich delegiert hatte, spielte auch keine Rolle. Mir wäre es deshalb im Hinblick auf den nächsten Ramadan einfach wohler gewesen, hätte ich gewusst, dass du wenigstens ein bisschen hättest schwimmen können. Aber eben…Halb so wichtig…
Im April 2016 wurden dein Vater und ich offiziell geschieden. Absolut selbstverständlich wurde dort nebst dem gemeinsamen Sorgerecht auch die alternierende Obhut festgelegt. Niemand erachtete es für notwendig, mich darüber zu informieren, welche Fallstricke sich hinter diesem so fortschrittlichen Betreuungsmodell verbergen konnten. IN unserem Fall waren die absehbar, waren doch die Spannungen und finanziellen Probleme bekannt. Die ständige Parteinahme bzw. die Weigerung der Beiständin, auch deinen Vater einmal in die Pflicht zu nehmen, führte bei mir schliesslich zu einer Art Resignation. Offenbar musste es so sein, dass ich die ganzen finanziellen Lasten trug, für die gesamte Organisation zuständig war und dazu noch – wenn auch ehrenamtlich – arbeitete. Zur selbst von der Beiständin eingeräumten Tatsache, dass sich dein Vater nur unzureichend an getroffene Abmachungen hielt, hatte ich gemäss Nathalie Chaudhary zu schweigen. „Sie können ihn eben nicht ändern, Frau Djellal.“ lautete hierzu ihre Standardantwort.
Ich frage mich zuweilen, ob du Heute noch bei mir wärst, hätte mir die Ausgleichskasse 2017 nicht erneut die Ergänzungsleistungen gekürzt. Dieser ständige finanzielle Druck laugte mich aus. Dass dein Vater lediglich die Hälfte der Kinderzulagen abtreten musste, weil vor Gericht ja die alternierende Obhut festgelegt worden war, empfand ich zunehmend als ungerecht. Er hatte für sich allein zuweilen mehr Geld zur Verfügung, als dass wir es zusammen hatten.
Ja, je älter du wurdest, umso öfter kaufte er dir Schuhe und Kleider. Mit deinen Sneakers und Hüten hättest du eine Konfektionsabteilung ausstatten können. Doch man braucht ja auch weniger schicke Dinge, um als Kind den Alltag zu bewältigen. Dafür blieben aber ich und deine Grosseltern zuständig.
Dass dein Vater mit seinem passiven Verhalten immer durchkam, liegt ganz sicher auch an meiner Blindheit. Dieser nette Mann war für die arme blinde Mutter doch bestimmt voll die Stütze! Wie sollte die denn überhaupt allein den Alltag bewältigen? Und dein Vater verstand es gut, sich bei Bedarf als fürsorglicher Vater zu verkaufen! Dass der Alltag ganz anders aussah, brauchte ja niemanden zu interessieren.
Trotz all diesen Unannehmlichkeiten stand es für mich zu keinem Zeitpunkt ausser Frage, dass dein Vater in deinem Leben seinen Platz haben musste. Wahrscheinlich gelang es mir nicht immer, ihm mit der nötigen Wertschätzung zu begegnen, das ist mir Heute klar. Doch meine Anliegen wurden ja auch nie gehört, trotzdem ich sie der KESB und der Beiständin gegenüber mehrfach klar geäussert hatte. Für finanzielle Dinge waren die ohnehin nicht zuständig, und den Vater musste ich ja so nehmen, wie er war.
Dass wir es zwischendurch trotzdem schafften, miteinander zu kooperieren, zeigt deine Beschneidung im Februar 2018. Zwar beteiligte ich mich weder an den Kosten für den Eingriff noch bot ich Hand für irgendwelche Tricksereien, aber wir waren Beide bei dir, als du Anfang Februar 2018 im Kinderspital in Bern operiert wurdest. Das Fest mit Gästen und einem reichhaltigen Couscous habe dafür ich organisiert.
Ich frage mich Heute oft, was wohl gewesen wäre wenn… Wenn die Obhut bei der Scheidung klar geregelt worden wäre? Wenn ich einfach weiter geschwiegen hätte? Wenn ich…
Hätten eine aktivere Beiständin und eine allfällige Mediation dabei geholfen, die Spannungen zwischen deinem Vater und mir zu beruhigen? Hätte ich ohne diesen ständigen finanziellen Druck überhaupt eine Klage zur Abänderung der Obhut eingereicht?
An Marie Meierhöfers Überlegungen zur alternierenden Obhut ist zweifelsohne eine ganze Menge dran; schön wäre es, wenn diese Empfehlungen von den Stakeholdern aber auch umgesetzt würden. Wenn hilfesuchende Eltern wie ich auch tatsächlich ordentlich informiert und mit den ja zur Verfügung stehenden Angeboten unterstützt würden.
Damals fehlte mir ob des ganzen Alltagstrubels schlicht die Musse für Recherchen, wie ich sie jetzt, da du nicht mehr da bist, anstellen kann. Doch weshalb muss sich eine Mutter überhaupt Fachwissen aneignen, wenn es doch vergoldete Scheidungsanwälte, die KESB und deren Beistände gibt?