Es gibt Erlebnisse aus der Kindheit, an die man sich erinnert, als wären sie Gestern gewesen.
In einem früheren Beitrag habe ich euch über mein Langstocktraining in Bern berichtet. Nach dem schicksalhaften Zusammenstoss mit der dummen alten Frau absolvierte ich das ja mit durchaus gemischten Gefühlen.
Was ich aber toll fand war, dass mir während dieses Trainings ältere Leute immer wieder einen Fünfliber in die Hand drückten. Dieses Geld sammelte ich in einem knallgelben Plastiksparschwein, welches man nur öffnen konnte, wenn man es mit einem Messer schlachtete.
Eines Tages, ich muss neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, war ich mit meinen beiden jüngeren Geschwistern in Streit geraten. Um sie zu ärgern, zeigte ich ihnen mein Schwein und prahlte, dass sich darin bestimmt schon 30 Franken befänden. Meine Geschwister, beide natürlich neidisch geworden, rannten zu unserer Mutter und erzählten ihr, dass ich mehr Geld hätte als sie.
Die Reaktion meiner Mutter fiel äusserst heftig aus. Ich spürte instinktiv, dass da einiges mehr dahinterstecken musste als nur die 30 Franken, welche ich ungerechtfertigterweise in meinem Schwein angesammelt hatte.
Nicht nur nötigte mich meine Mutter, das gesparte Geld auf der Stelle redlich mit meinen Geschwistern zu teilen, sie hielt mir auch einen ausführlichen Vortrag darüber, dass ich mit meinem guten Kopf künftig mein Geld selbst verdienen könne. Es käme weder in Frage, dass ich einmal als Bürstenbinderin oder Korberin mein Dasein fristetete, noch dass ich je von den Almosen fremder Leute abhängig würde. Diese Zeiten, so schloss meine Mutter ihren energischen Vortrag, seien Gott sei Dank vorüber.
Ich erinnere mich noch gut, wie wütend ich danach auf sie war. Ich schleuderte ihr mein quietschgelbes Sparschwein vor die Füsse und verzog mich in den Luftschutzkeller, wo ich mich zunächst entrüstet, dann immer beschämter, versteckte.
Meine Mutter muss danach auch meinem damaligen Mobilitätstrainer gehörig die Leviten gelesen haben, denn von da an hörten die „netten Gesten“ der alten Leute auf. Aber selbst dann, wenn mein O&M-Trainer sie nicht abgewehrt hätte: Ich hätte einen Teufel getan und danach nochmals einen Fünfliber von fremden Leuten angenommen! Die Lektion, die mir meine Mutter an diesem Tag erteilt hatte, wirkt bis Heute nach.
Vor diesem Hintergrund kann man sich vielleicht ausmalen, wie schwer es mir fiel, beim Sozialdienst zum ersten Mal um Leistungen für R. und mich nachsuchen zu müssen. Für mich selbst hätte ich Solche unter gar keinen Umständen in Anspruch genommen.
Nach unserem Umzug in den Kanton Bern im August 2009 Konnte ich zum Glückzunächst drei, dann zwei Tage pro Woche in der Administration der elterlichen Computerfirma arbeiten. Vor allem Dank meiner Mitarbeiterin S. konnte ich dort in den ersten beiden Jahren auch noch eine Menge Jobs selbständig erledigen, doch mehrere Software-Wechsel machten ein eigenständiges und einigermassen effizientes Arbeiten mit meiner Screenreadersoftware immer schwieriger. Immer öfter musste ich S. um Unterstützung bitten, und immer weniger Aufgaben konnte ich wirklich allein ausführen.
Dass ich arbeitete, wenn es R.s Vater schon nicht tat, empfand ich als meine Pflicht. Schliesslich hatte ich mein Studium abgebrochen, und schliesslich hatte ich nun ein Kind zu versorgen. Auch die Heirat mit R.s Vater hatte ich mir schlussendlich selbst eingebrockt. Für all das musste ich die Konsequenzen nun eben tragen. Meinen Eltern wollte ich auf gar keinen Fall auf der Tasche liegen.
Nicht nur ging ich bis kurz vor der Geburt regelmässig schwimmen, ich sass auch bis fünf Tage davor an meinem Arbeitsplatz.
Anfang April 2010 gewöhnte ich R. in der nahegelegenen KiTa ein, sodass ich sechzehn Wochen nach seiner Geburt wieder zu 40% erwerbstätig sein konnte.
Im Juni 2011 nahm ich sogar noch eine weitere Herausforderung an; wenn ich denn schon in der Administration arbeitete, dann wollte ich dafür auch ein ordentliches Wissensfundament haben. An der Wirtschafts- und Kaderschule Bern absolvierte ich deshalb die 2jährige Ausbildung zur Kauffrau, die ich mit einem Eidg. Fachzertifikat im Juni 2013 mit einem Notenschnitt von 5,2 erfolgreich abschloss.
Zum ersten Mal seit meiner Schulzeit absolvierte ich einen Lehrgang mit Sehenden, ohne dabei dauernd den Unterrichtsmaterialien hinterherrennen zu müssen. Mit M. G. vom ambulanten Dienst in Zollikofen stand mir eine gute Fee zur Seite, die stets dafür sorgte, dass ich nicht nur meine Prüfungen, sondern auch alle erforderlichen Lehrmittel rechtzeitig in einer für mich lesbaren Form zur Verfügung hatte.
Das waren vollkommen neue Perspektiven, denn es war ja nicht so, dass ich Rechnungswesen oder Rechtskunde schon von früher gekannt hätte. Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich die Erfahrung, dass ich – verfügte ich denn über die Ausbildungsunterlagen – doch tatsächlich systematisch lernen konnte! Ein vollkommen neues Gefühl, hatte ich doch bis zum Abitur kaum lernen müssen und während des Studiums auf Grund fehlender Unterlagen und anderweitiger Belastungen kaum lernen können.
Als ich im Jahr 2012 eher zufällig herausfand, dass mir auf Grund einer Hilflosenentschädigung ersten Grades, die ich seit meiner Volljährigkeit von der IV bekomme, auch Ergänzungsleistungen zustehen, war ich erleichtert. Der Verdienst aus meinem 40%-Job reichte kaum aus, um R. und mich durchzubringen, und überdies musste ich mich beruflich neu orientieren, wenn ich nicht länger der väterlichen Firma zur Last fallen wollte.
So trat ich Anfang August 2012 ein einjähriges Praktikum beim Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) an. IM Nachhinein betrachtet eine schreckliche Erfahrung, die mich wohl für die kommenden Jahrzehnte aus der Behindertenselbsthilfe vertrieben hat. Nach meinem Abschluss im Juni 2013 meldete ich mich beim RAV, doch da wusste man herzlich wenig mit mir anzufangen. Ich bewarb mich, doch als ich nach drei Monaten noch immer nur Absagen erhielt, bat ich die zuständige Berufscoachin, mich für einen Kurs zwecks Gründung eines selbständigen Unternehmens anzumelden. Im Oktober 2013 ging daraufhin die OffKorr.ch GmbH an den Start, mit der ich eigentlich administrative Dienstleistungen für Handwerksbetriebe oder Ladenbesitzer*innen anbieten wollte.
Doch die Aufträge blieben aus, und das Selbstbewusstsein, mich und vor allen Dingen meine Fähigkeiten zu vermarkten, fehlte mir vollkommen. Ich hatte schlicht noch zu wenige Erfahrungen in der freien Berufswildbahn machen können, um zu wissen, was ich konnte.
Trotzdem verzichtete ich über anderthalb Jahre auf meinen „Lohn“ von 1000 Franken aus der OffKorr.ch GmbH, den ich mir selbstverständlich nicht auszahlte, um keine laufenden Fixkosten zu generieren. Gleichzeitig wollte ich aber auch keine anderweitigen Leistungen in Anspruch nehmen, da ich doch jetzt endlich über einen richtigen Berufsabschluss verfügte.
Erst, als statt der OffKorr.ch GmbH Ende 2015 der Verein Give a Hand.ch zumindest auftragsmässig Fahrt aufnahm, meldete ich die Offkorr.ch GmbH ab. Somit hatte ich jetzt nebst der Mutterschaft zwar eine erfüllende und anspruchsvolle Tätigkeit, der Ausgleichskasse gegenüber entfiel damit aber mein fiktives Salär. Damit aber fingen die finanziellen Probleme 2016 so richtig an; auf einmal verlangte die Ausgleichskasse von mir, mich monatlich an acht Orten zu bewerben, ansonsten würden mir die Ergänzungsleistungen um fast die Hälfte gekürzt. Nun sass ich in der Klemme: Auf der einen Seite hatte ich mir eine ehrenamtliche Arbeit in einem funktionierenden Verein geschaffen, die mir endlich das Gefühl gab, etwas Relevantes zu dieser Gesellschaft beizutragen, doch auf der anderen Seite drohte ein finanzieller Engpass. Die Zeit, nebst der fristgerechten Erledigung all der anstehenden Vereinsarbeiten und der Mutterschaft noch acht Stellen pro Monat im Internet zu finden und mich darauf zu bewerben, fehlte mir ganz einfach.