Momentan tut sich in meinem Innern gerade einiges. Vielleicht bin ich deshalb sowohl gestern als auch heute aus Albträumen aufgeschreckt, ich, die sich normalerweise kaum einmal an ihre Träume erinnert.
Gestern Morgen habe ich nach langer Zeit wieder einmal von dir geträumt, R. Wir waren zusammen, doch aus irgendeinem Grund musste ich dich gehen lassen. Wohin weiss ich nicht, aber dass es schrecklich weh tat, weiss ich sehr wohl noch.
Wahrscheinlich kam der Traum davon, dass ich mich beim Schreiben meines letzten Blog-Beitrags wieder ganz fest an den Tag im Juli 2019 erinnert habe, an dem ich dich nach Algerien habe gehen lassen müssen.
Der Tag begann mit einem plötzlichen Wutanfall deinerseits; es fing schon an, während du neben mir im Bett wach geworden bist. Du wolltest diesen letzten Abend vor deiner eventuellen Abreise zu Hause übernachten, und so hatte der Grossvater T., mich und dich am Vorabend nach J. gebracht. Dort bist du friedlich neben mir eingeschlafen, aber beim Aufwachen hast du dich wohl daran erinnert, dass noch immer diese superprovisorische Geschichte bei Gericht lief.
Du tobtest über eine dreiviertelstunde, warst überhaupt nicht mehr zu beruhigen. Du warfst mit einer Boccia-Kugel nach mir, und noch eine Woche später erinnerte mich ein grosser blauer Fleck an meiner linken Seite daran, dass du mich in unkontrollierter Wut getreten hattest. Quasi ein Andenken, das du mir vor deiner Abreise hinterlassen hast.
Erst, als der Grossvater, den wir – wie bereits einige Male zuvor – zu Hilfe rufen mussten, eintraf und beruhigend auf dich einredete, bist du endlich aus deinem Tobsuchtsanfall erwacht und begannst, dir am Herd ein Spiegelei zu braten.
„Ich kann das selber“, hast du zu T. gesagt, als er dir helfen wollte. Danach gingen wir sicherheitshalber wieder zu deinen Grosseltern, wo du mit den anderen Kindern Fussball spielen wolltest. Mir war das recht, denn so warst du wenigstens etwas abgelenkt, bis die Entscheidung des Gerichts eintreffen würde.
Die Anwältin deines Vaters verlangte, dass du mit ihm nach Algerien gehen dürfen solltest. Ich hingegen bestand darauf, dass man sich vor einer fröhlichen Familienreise nach Monaten des Nichtkommunizierens vielleicht doch zuerst einmal zusammensetzen sollte, um wenigstens die vordringlichsten Streitpunkte auszuräumen oder – wenn das nicht möglich wäre – einander zumindest gegenseitig die Karten offen auf den Tisch zu legen.
Natürlich hat dein Vater dir, R., erfolgreich eingeredet, meine Eltern und ich würden euch einfach diese Sommerferien nicht gönnen. Doch du weisst, R., dass ich dich jedes Jahr zu deinen algerischen Verwandten habe gehen lassen. Das erste Mal warst du zwei einhalb Jahre alt und kamst voller Stolz mit deinem vollgepackten kleinen „Valise“ aus dem Flughafen-Terminal in Basel heim. Im Album, das T., der Grossvater und ich für dich gemacht haben, gibt es noch ein schönes Foto davon. Als du zurückkamst, konntest du „Frère Jacques“ singen. Das hatte Ba dir beigebracht, dein algerischer Grossvater.
Ba ist ein herzensguter Mensch. Ich durfte ihn 2007 selbst kennenlernen. Ich erinnere mich noch gut, wie ich ihm half, einen Knopf wieder an seiner Jacke anzunähen. Ebenso durfte ich auch deinen Onkel Mohammed, mit dem zusammen ich „Monsieur Kharouf“ am Morgen des Id-al-Kabir über den Jordan habe gehen lassen, sowie deine Tanten Fatiha und Fatima und natürlich dein Grosi Ma kennenlernen.
DieFamilie deines Vaters war stets freundlich zu mir, und auch ich habe sie gemocht. Immer haben sie deinem Vater und dir algerische Süssigkeiten für mich mitgegeben, weil sie wussten, dass ich die so gern mochte.
Als dein Vater 2015 drei Wochen zu spät mit dir aus Algerien zurückgekommen ist, weil ihm das Geld ausgegangen ist, hat mich das aber so sehr in Angst und Schrecken versetzt, dass ich mich drei Wochen lang in psychiatrische Behandlung habe begeben müssen. Man hörte solche Geschichten ja immer wieder. Natürlich kamen auch noch Probleme bei der Arbeit hinzu, doch diese latente Angst, dass du eines Tages einfach nicht mehr zurückkommen würdest wallte jedes Mal in mir auf, wenn zwischen deinem Vater und mir gerade wieder einmal nicht gut Kirschen-essen war oder – wie damals – er bereits jahrelang und frustriert ohne Arbeit herumgesessen hatte.
Mehrmals sagte ich in solchen Situationen zu meinen Eltern: „Vielleicht sollte ich einfach mal selbst runterfliegen und mit den Eltern reden. Dann werden sie es dem Kader vielleicht ausreden, falls er eines Tages vorhat, mir R. wegzunehmen.“
Doch so ein Flug allein nach Algerien? In ein Land, in dem du als europäische Frau besser nicht allein auf den Strassen unterwegs bist. Und was wäre, wenn die Familie mich gar nicht gern empfangen würde, weil ich ihren Sohn und Bruder ja verlassen hatte? Vielleicht wäre ihnen das peinlich, wenn auf einmal die Ex bei ihnen auftaucht?
Ich traute mich nicht, dieses Unternehmen allein mit dir, R., zu wagen. Aus heutiger Sicht ein Fehler, wer weiss?
Sicher nicht förderlich ist die Tatsache, dass auch dein Onkel Mohammed seinen Sohn nicht mehr sehen darf. Seine Heirat mit einer Landsfrau verlief nämlich alles Andere als glücklich, obgleich ich Mohammed immer als eine Art gutmütigen Teddy wahrgenommen hatte. Ein Gericht in Sidi bel Abbès hat den damals 1jährigen Ali der Familie der Mutter zugesprochen, und diese hält gemäss meines letzten Wissensstandes die Besuchszeiten je nach Gusto ein.
Ja! Klar habe ich deinem Vater in meiner ersten Wut darüber, dass er dich über ein halbes Jahr hinweg nötigte, mir seine Neuverheiratung zu verschweigen, damit gedroht, dass er dich nicht mehr sehen dürfe. Aber dein Vater kennt mich nun auch nicht erst seit gestern und weiss wohl, dass ich alles Andere als ein nachtragender Mensch bin.
Zudem bist sogar du in der Folgezeit des Öfteren Zeuge davon geworden, dass ich deinen Vater um ein Treffen mit deiner Stiefmutter gebeten habe. „Wir können das doch ausdiskutieren wie erwachsene Leute“, habe ich mehr als ein Mal zu ihm gesagt.
Ich weiss nicht, was ihn von einer gütlichen Regelung abgehalten hat. War es das schlechte Gewissen, seine latente Feigheit? War es der Kontakt zu Y.s Vater und ein damals bereits geschmiedeter Plan, uns die beiden Jungs wegzunehmen. Y.s Vater hatte dies zweifelsohne schon im Sinn, als ich ihn im November 2018 zum ersten Mal getroffen habe. Du, R., als Vehikel, um auch Y. enger an den Vater zu binden?
Ganz sicher war es nicht deine algerische Familie, die hinter diesem Drecksspiel gestanden hat. Bestimmt hat ihnen dein Vater mittlerweile genügend Schauergeschichten über seine eifersüchtige Schweizer Ex erzählt, um die vielleicht noch vorhandene Sympathie in ihnen abzutöten, doch als ich dich im Sommer 2019 nicht habe gehen lassen wollen, war es nicht wegen Ma, Ba, den Tanten oder Onkel Mohammed.
Meine Angst galt der Sippe der Frau, die, wie ich nun wusste, seit sechs Monaten deine neue Stiefmutter war. Ihre Familie hat dein Vater gemeinsam mit dir ja schon im Sommer zuvor besucht, ohne dass du mir davon erzählen durftest. Ich wusste es nur, weil du aus Versehen den Städtenamen ausgeplappert hattest. Und wenn sich deine Mutter etwas merken kann, dann sind es eben Namen.
Ich wusste, dass die Familie deiner Stiefmutter um Einiges wohlhabender ist als die buchstäblich mausarme Familie deines Vaters. Und wer das Geld hat, der hat auch das Sagen. Deshalb habe ich mir zu keinem Zeitpunkt weismachen lassen, deine Stiefmutter wäre in der Geschichte einfach ein armes, rechtloses Opfer gewesen. Im Gegensatz zu deinem Vater hat sie hier Verwandte, über die der Kontakt ja erst zustande gekommen ist.
Wir alle kennen den Ausgang dieses 19. Juli 2019: Mit superprovisorischer Verfügung zwang mich Gerichtspräsidentin Rickli, dich um 18.00 Uhr zusammen mit deinem Schweizer Pass an meiner Wohnadresse deinem Vater zu übergeben. Als mein Anwalt Anfang Nachmittag anrief, um mir die Hiobsbotschaft mitzuteilen, trieben mir Wut und Angst die Tränen in die Augen. An diesem Tag war mir bereits klar, auf welcher Seite Gerichtspräsidentin Rickli im kommenden Verfahren spielen würde. Alle Beschwichtigungen, R. würde schon wieder zurückkommen, vermochten mich nicht zu beruhigen.
Bevor dein Grossvater um 17.45 Uhr mit dir im Auto nach J. aufbrach, um dich deinem Vater zu bringen, hast du mich im Treppenhaus zu dir gerufen. „Keine Sorge, Mama. Ich komme schon wieder heim. Und dann gehe ich aufs Sportgymnasium und werde ein guter Fussballer. So kann ich euch später Beiden helfen, wenn ihr mal kein Geld habt.“
Ich musste mich unheimlich zusammenreissen, um nicht auf der Stelle in Tränen auszubrechen. Ganz fest nahm ich dich, mein Kind, in den Arm und erwiderte: „Keine Sorge, R. Du gehst jetzt erst einmal zu Ma und Ba und grüsst diese ganz lieb von mir. Und wenn du wieder heimkommst, dann fangen wir zusammen wieder ganz von vorne an. Über das Geld brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Mama kommt schon klar.“
Ich liess R. noch rasch meine Handynummer aufsagen, für den Fall, dass er mich anrufen möchte. Danach verabschiedete sich mein Kind von seinen Grosseltern, stieg ins Auto und ging mit seinem Papa nach Algerien.
Herzlichen Dank auch, Frau Gerichtspräsidentin Rickli! Ohne diese von Ihnen verfügten Algerienferien wäre das Kindswohl von R. unzweifelhaft in höchstem Masse gefährdet gewesen.