Neulich hat A., eine meiner langjährigen Facebook-Bekanntschaften, ein interessantes Feature mit uns geteilt. Es lief am 25. Februar auf Deutschlandfunk Kultur unter dem Titel „Kunst und Grenzen des Verzeihens – Wenn die Zeit nicht alle Wunden heilt“. Ich fand den Beitrag für uns entfremdete Angehörige so hilfreich, dass ich ihn im Menüpunkt „Links“ für euch bereitgestellt habe.
Denn nicht nur im Schmerz, den wir über den Verlust unserer Kinder empfinden, werden wir in einem ganz existentiellen Punkt von der Gesellschaft vollkommen im Stich gelassen. Wir müssen für uns selbst nämlich auch einen ganz persönlichen Umgang mit den Tätern finden. Dabei geht es nicht nur um den entfremdenden Elternteil und dessen neue Lebenspartner*in, sondern auch um die Verantwortlichen im Entscheidungsprozess, der schliesslich zum Verlust unseres Kindes geführt hat.
Die Auseinandersetzung mit diesen Tätern ist emotional äusserst bedrohlich. Je heftiger und je länger man ihrem Urteil ohnmächtig ausgeliefert ist, desto verheerender brechen sich Wut, Hass und Rachegedanken Bahn.
Wie man den Umgang mit diesen gesellschaftlich geächteten und gleichzeitig so existentiellen Urgewalten im eigenen Innern regelt, hängt nebst den vorhandenen Ressourcen auch sehr stark von privaten Weltbildern ab. Mir persönlich hat in der Hinsicht der Kontakt zu meinen Klient*innen sehr geholfen. An ihren Schicksalen konnte ich mir immer wieder von Neuem vor Augen führen, dass ich nicht die Einzige auf dieser Welt bin, die mit einem kaum wiedergutzumachenden Unrecht wird weiterleben müssen.
Viele meiner eritreischen und äthiopischen Klienten sind noch sehr stark in ihrem Glauben verwurzelt. Nicht, dass das bei ihrem Ankommen in unserer Gesellschaft immer und jederzeit von Vorteil wäre! Aber im Umgang mit dem erlittenen Unrecht erlebe ich diesen Glauben als eine unschätzbare Ressource.
Das Grauen, die Verluste und die Angst, welche viele von ihnen im Herkunftsland und auf der Flucht erdulden mussten, hätten manche ohne ihr tiefes Gottvertrauen wohl nicht überlebt. So war eine Vielzahl meiner weiblichen Klientinnen sexualisierter Gewalt ausgesetzt; für sie gibt es auf dieser Welt keine Aussicht auf eine irdische Gerichtsbarkeit. Sie werden, ob sie es wollen oder nicht, die Verantwortung für die Sühne dieser Verbrechen an ein höheres Gericht abgeben müssen.
Und genau dieses Abgeben der Verantwortung an eine höhere Instanz war es, was mich schliesslich von meinen schrecklich quälenden Gedanken an Selbstjustiz befreite. Sowohl im Christentum, dem ich mich verbunden fühle, wie auch im Islam gibt es die Vorstellung eines Jüngsten Gerichts. Die Aussicht, dass auch R.s Vater und seine Ehefrau eines Tages nicht umhin kommen werden, dort gewisse Fragen bezüglich ihres Tun und Lassens auf dieser Welt beantworten zu müssen, empfand ich als wirkliche Erlösung. Niemand von uns wird sich freiwillig und dauerhaft dem Höllenfeuer aussetzen wollen, und so wird der Wille, dem ewigen Aufenthalt da unten doch noch entrinnen zu können, vielleicht auch bei ihnen irgendwann zu einem Prozess der Selbstbesinnung führen.
Aber auch Gerichtspräsidentin Rickli wird unter Umständen in ruhigen Minuten manchmal von Selbstzweifeln heimgesucht; habe ich, wird sie sich dann fragen, mir bei meiner Entscheidungsfindung wirklich immer die Justizia vom Gerechtigkeitsbrunnen als Orientierung genommen, oder waren meine Entschlüsse doch ab und zu das Resultat von anderen, weniger lauteren Motiven?
Oder Herr Florian Huggler, ein im Grunde äusserst unselbstsicherer Zeitgenosse. Wird er sich, wenn seine eigenen beiden Kinder zwischendurch ihre Phasen haben, ab und zu an die Mutter erinnern, die er in seinem Gutachten so mir-nichts-dir-nichts abgeurteilt hat?
Ich persönlich halte es nicht für meine Aufgabe, mir stundenlang den Kopf über mögliche Motive dieser Verantwortlichen zu zerbrechen. Ich bin überdies nicht der Ansicht, dass wir entfremdeten Eltern es uns nebst der Bewältigung unserer Trauer über den Verlust unserer Kinder auch noch auferlegen müssen, den Tätern auf traditionell christliche Weise zu vergeben. Nein! R.s Vater und seiner Ehefrau will ich nie mehr in meinem Leben begegnen müssen! Sie sollen mir einfach nur egal werden.
Doch auch was die Verantwortlichen anbelangt, werde ich mein zukünftiges Seelenheil sicher nicht davon abhängig machen, ob die eines Tages vielleicht doch über die Bücher gehen. Alle, die an R.s Entfremdung beteiligt waren, sind aufgelistet und müssen, sollte R. dies eines Tages wünschen, ihm selbst Rede und Antwort stehen. Wie ich es Frau Mordasini gegenüber bereits anklingen liess: In dem Fall werde ich R. bei der Suche helfen, und dies selbst dann, wenn diese Suche in ein Altersheim führt.
Dass man sich im Leben immer zwei Mal begegnet ist eine Binsenwahrheit, und im Kanton Bern ist es beinahe gewiss, dass man sich eines Tages wieder unverhofft über die Füsse stolpert.
Ich selbst werde mich hüten, mich in Sachen Entschuldigungen mit allfälligen Erwartungen erneut in die Abhängigkeit dieser Leute zu begeben. Die Ohnmacht, der ich während der Zeit des Prozesses ausgesetzt war, hat mir vollauf gereicht.
Ich bin mir im Klaren darüber, dass der Bewältigungsprozess wohl nie ganz abgeschlossen sein kann. Immer wieder werde ich in Situationen geraten, in denen das erlebte Trauma in mir reaktiviert wird. Aber ich will damit leben lernen. Indem ich auch in Zukunft lache, Freundschaften pflege und schliesse, Momente geniesse, weiterhin ohne Angst vor Enttäuschung gebe -, sichere ich nicht nur mein Überleben und erhöhe damit die Chance, R. eines Tages wiederzusehen; ich nehme den Tätern damit auch ihre Macht, die sie so schamlos auszuspielen sich nicht zu schade waren.