04.03.2021 (Abend)

Bezüglich meines gestrigen Blog-Beitrags möchte ich – sollte das irgendwie missverständlich gewesen sein – ganz klar festhalten, dass es zu keinem Zeitpunkt meine Absicht war, eine Eltern-Kind-Entfremdung mit den während des Holocausts begangenen Gräueln gleichzusetzen. Nichts läge mir ferner, als in polemischer Manier auf solch unschickliche Vergleiche zurückzugreifen. Dr. N. hat dafür im Leistungskurs Geschichte im Gymnasium viel zu gute Arbeit geleistet! Zudem habe ich die Beschreibungen über die Auschwitzer Vernichtungsmaschinerie von Primo Levi und Peter Weiss gelesen, weiss also, mit welch perverser Akribie dort an der Auslöschung ganzer Menschengruppen gearbeitet wurde. Bei der Erwähnung der KZ-Insassen ging es mir lediglich darum, die Wichtigkeit schriftlicher Quellen bei der Aufarbeitung von begangenem Unrecht herauszustreichen.

Ein weiterer, äusserst interessanter Aspekt bei der Aufarbeitung von vergangenem oder bei der Sichtbarmachung von gegenwärtigem Unrecht sind die Doppelstandards, welche in Bezug auf die Glaubwürdigkeit von Zeug*innen angesetzt werden. Zunächst kommt es darauf an, ob ein Thema überhaupt angesprochen werden darf, oder ob es unter Umständen zu viele Entscheidungsträger in eine unkomfortable Lage bringen könnte. Für uns, die im Asylbereich arbeiten, sind die prominentesten Beispiele hierfür die Schweizer Praxis gegenüber Tibetern und Eritreerinnen.

Unter Ex-Bundesrätin Doris Leuthart ist China zu einem wichtigen Handelspartner für die Schweiz geworden; da ist es auf einmal gar nicht mehr so angebracht, wenn der chinesischen Führung gegenüber Menschenrechtsverletzungen gegenüber Minderheiten thematisiert werden sollten. Die Tibeter*innen, die bis 2014 Schutz erhielten, wurden auf einmal zu lästigem Sand im Getriebe der brummenden Wirtschaftsbeziehungen. Plötzlich wird die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen angezweifelt, mit allen erdenklichen Mitteln versucht man, die Zahl der anerkannten Flüchtlinge niedrig zu halten. Dabei scheut man auch nicht davor zurück, regimetreue Linguisten zum Verfassen von Herkunftsanalysen heranzuziehen.

Auch die Aussagen von aus Eritrea geflohenen Asylsuchenden werden auf einmal anders bewertet, seit ein paar Parlamentarier von einer von Anhängern des Regimes organisierten Privatreise zurückgekommen sind und verkündet haben, dass man sich in der Hauptstadt ja ganz frei bewegen und sogar ganz guten Espresso trinken könne (Irony off!, aber nicht ganz unähnlich lief das 2016 ab). Ohne, dass sich am herrschenden System, dem unbegrenzten Militärdienst oder an der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in diesem Land irgend etwas geändert hätte, stuften die Asylbehörden die Gefahr, die bei einer Rückkehr drohe, schrittweise als immer niedriger ein; ergo schnellte die Zahl der als unglaubhaft abqualifizierten Asylvorbringen in die Höhe.

Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung werden in Art. 7 des Schweizer Asylgesetzes dargelegt; vom Bundesverwaltungsgericht wurde die Definition in mehreren Urteilen noch verfeinert. In unserem Zusammenhang reicht hierzu aber Folgendes:

„Art. 7 Nachweis der Flüchtlingseigenschaft

1 Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen.

2 Glaubhaft gemacht ist die Flüchtlingseigenschaft, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält.

3 Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden.“

Während – mit Ausnahme von Nordkorea oder Eritrea, von wo auch kaum unabhängige Berichte über „Tatsachen“ verfügbar sind – in der Definition des Asylgesetzes lediglich die Wendungen „in wesentlichen Punkten“ und „zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich“ Raum für Interpretation lassen, wird es bei den in einer Vielzahl von Bundesverwaltungsgerichtsurteilen zitierten Definitionen des Bundesverwaltungsgerichtes nun wirklich knifflig. Dort steht nämlich zum Beispiel:

Glaubhaftmachung im Sinne des Art. 7 Abs. 2 AsylG bedeutet im Gegensatz zum strikten Beweis ein reduziertes Beweismass und lässt durchaus Raum für gewisse Einwände und Zweifel an den Vorbringen des Gesuchstellers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der gesuchstellerischen Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist auf eine objektivierte Sichtweise abzustellen. Eine wesentliche Voraussetzung für die Glaubhaftmachung eines Verfolgungsschicksals ist eine die eigenen Erlebnisse betreffende, substantiierte, im Wesentlichen widerspruchsfreie und konkrete Schilderung der dargelegten Vorkommnisse. Die wahrheitsgemässe Schilderung einer tatsächlich erlittenen Verfolgung ist gekennzeichnet durch Korrektheit, Originalität, hinreichende Präzision und innere Übereinstimmung. Unglaubhaft wird eine Schilderung von Erlebnissen insbesondere bei wechselnden, widersprüchlichen, gesteigerten oder nachgeschobenen Vorbringen. Bei der Beurteilung der Glaubhaftmachung geht es um eine Gesamtbeurteilung aller Elemente (Übereinstimmung bezüglich des wesentlichen Sachverhaltes, Substantiiertheit und Plausibilität der Angaben, persönliche Glaubwürdigkeit usw.), die für oder gegen den Gesuchsteller sprechen. Glaubhaft ist eine Sachverhaltsdarstellung, wenn die positiven Elemente überwiegen. Für die Glaubhaftmachung reicht es demnach nicht aus, wenn der Inhalt der Vorbringen zwar möglich ist, aber in Würdigung der gesamten Aspekte wesentliche und überwiegende Umstände gegen die vorgebrachte Sachverhaltsdarstellung sprechen (vgl. BVGE 2015/3 E. 6.5.1; 2013/11 E. 5.1; 2012/5 E. 2.2).“

Die aufmerksamen Leser unter euch merken schnell, wo der Hund hier begraben liegt. Nicht nur sind Eigenschaften wie Originalität, Substantiiertheit, etc. keine klar zu definierenden Grössen, sondern die Art, wie ein Mensch Erlebtes während einer Befragungssituation wiedergibt, hängt ganz stark von diversen subjektiven Faktoren (Bildungsgrad, wortgewandtheit, Grad der Traumatisierung, kulturellen Rollenbildern und Tabus, etc.) ab. So lässt sich oft beobachten, dass Frauen erlittene sexuelle Gewalt aus Scham oft verschweigen. Offenes Erzählen liegt gewissen Menschen mehr als anderen; Befragungssituationen wirken je nach Erlebtem mehr oder weniger einschüchternd, und so weiter.

Doch nicht nur die Asylsuchende Person hat Einfluss auf den Ausgang einer Asylbefragung, sondern auch die Befragerin. Wo hakt sie ein? Welche Zusatzfragen stellt sie, und welche lässt sie weg? Wieviel Hintergrundwissen zur Situation im Herkunftsland bringt sie mit? Und – was nicht zu unterschätzen ist – wie ist die Chemie zwischen der Befragten Person und dem Interviewer?

Wie entscheidend die von den Entscheidern mitgebrachten Wertvorstellungen sind, entlarvte eine Studie, die Anfang 2017 publiziert worden ist. Darin wurden 29’000 Asylurteile des Bundesverwaltungsgerichts analysiert. Dazu muss man wissen, dass die Bundesverwaltungsrichter*innen von den Parteien nominiert werden.

Das Resultat: Während ein von den Sozialdemokraten nominierter Richter 17 von 21 Beschwerden guthiess, lehnte sein von der SVP unterstützter Kollege 17 von 22 Beschwerden ab. Wir halten dazu fest: Grundlage war für alle Richter dasselbe Asylgesetz!

Weshalb erzähle ich das hier? Weil im Gegensatz zu dem, was ich erlebt habe, in einem Asylverfahren die Aussagen der betroffenen Personen zumindest einer Glaubhaftigkeitsprüfung unterzogen werden – mit allen eben geschilderten Fallstricken. Wenn es um die Zuteilung von Kindern geht, scheint dies obsolet zu sein.

Im Prozess um R. wurde zwar ein aufwändiges und teures Verfahren veranstaltet, doch kann sich – wer die vollständigen Akten durchliest – nicht des Eindrucks erwehren, dass die Meinungen bereits von Beginn an gemacht waren. Wie anders lässt es sich erklären, dass neun Jahre anstandslose Erziehung durch die Mutter auf einmal keinerlei Wert mehr haben? Wie erklärt es sich, dass die Beiständin der Mutter zwar rät, eine Klage zwecks Regelung der Verhältnisse einzureichen, um dann aber im entscheidenden Augenblick „aus eigenem Impuls heraus“ einen Bericht zu verfassen, in welchem sie die Mutter als problematisch darstellt und empfiehlt, dem Vater die Obhut zuzuteilen? Wie um alles in der Welt kommt eine Richterin dazu, gleich zu Beginn eines hochstrittigen Verfahrens die Mutter unter Strafandrohung von 10’000 Franken dazu zu zwingen, das Kind samt Schweizer Pass mit dem Vater nach Algerien gehen zu lassen – ungeachtet der Tatsache, dass Algerien die Haager Kinderrechtskonvention nicht ratifiziert hat, es also keinerlei Handhabe gäbe, ein dorthin entführtes Kind allenfalls wieder zurückzubringen. Umso unverständlicher ist das, als dass die Mutter den Sohn in den vergangenen Jahren ja immer hat gehen lassen. Müsste man sich, bevor man solche Algerienferien superprovisorisch verfügt, nicht die Frage stellen, weshalb die Mutter plötzlich Zweifel äussert?

Und der Gutachter, Herr Huggler von der Erziehungsberatung Thun. Könnte der nicht allenfalls das erforderliche Bisschen Empathie aufbringen um zu verstehen, weshalb die Mutter, die zu dem Zeitpunkt bereits seit sieben Monaten vom Kind getrennt ist, sich vor einer persönlichen Begegnung mit dem Vater fürchtet und sich mit Händen und Füssen dagegen wehrt? Nein. Für den Fachpsychologen Florian Huggler ist das Ausdruck sowohl einer mangelnden Bindungstoleranz als auch einer eingeschränkten Erziehungsfähigkeit.

Hinweise auf eine Eltern-Kind-Entfremdung? Die will ohnehin keiner haben, jetzt, da doch alles so klar ist: Das Kind hat keinen Bock mehr auf die Mutter, die ohnehin blind und etwas impulsiv ist, und es möchte doch einfach beim Vater leben. Weshalb sollte man daran noch rütteln? Oder, wie es Bernhard Allemann, der zuständige Jurist bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Mittelland-Nord mir gegenüber am Telefon formulierte: „Er läuft ja nicht davon…“

Dass der Vater vor und während des Verfahrens keinerlei Kooperation zeigte, Tatsachen verschwieg und sogar von Kinderärzten verordnete Psychotherapien für R. hintertrieb…Alles halb so schlimm. Nicht einmal der Umstand, dass er während der Gerichtsverhandlung selbst einräumte, R. über ein halbes Jahr lang untersagt zu haben, der Mutter von der anstehenden Neuverheiratung zu erzählen, findet Frau Gerichtspräsidentin Rickli eine Erwähnung wert.

Das Kind macht – zumindest im Moment – keine Probleme mehr. Warum sollte sich da denn jemand die Mühe machen, dem Vater und seiner neuen Frau wenigstens ein bisschen auf den Zahn zu fühlen? Die Einwände der Mutter und der Grosseltern von R. sind ja ohnehin nicht relevant.

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