01.03.2021 (Abend)
Gestern verbrachte ich einen wunderschönen Nachmittag mit H.; nachdem wir bei schönstem Frühlingswetter ausgiebig mit Oak spazieren gegangen waren, war ich noch bei H. und ihrer Familie zum Abendessen eingeladen. Kartoffelstock mit Geschnetzeltem, Erbsen und Karotten gabs – ein richtiges Grosi-Essen – und natürlich mit Seelein.
H. habe ich kennengelernt, als ich ab und zu mit dem kleinen R. den evangelischen Gottesdienst bei uns in der Kirche besucht hatte. Ich hatte darauf gehofft, dort Leute kennenzulernen.
An ein Familienwochenende in Vinelz am Bielersee kann ich mich noch gut erinnern.
R. war damals etwa zwei Jahre alt, und vor allem die Jugendlichen gingen in einer für mich ganz beeindruckenden Offenheit mit uns Beiden um. Nie musste ich mir Sorgen um R. machen, weil immer jemand da war, um mir ein Auge zu leihen. Doch zurück zu H.
Eigentlich war es ihr Mann, der zuerst auf mich zukam. Er kannte mich. Zwanzig Jahre zuvor hatte er in der Blindenschule als Erzieher gearbeitet, und so erkannte er das Mädchen, welches ein Mal die Woche von ausserhalb und jedes Jahr mit ins Skilager gekommen war, wieder.
H. und ihr Mann haben viel Erfahrung mit Kindern; nebst ihren Eigenen haben sie auch Pflegekinder bei sich aufgenommen. Deshalb wurde H. in den folgenden Jahren zur Ratgeberin meines Vertrauens, wenn ich in Erziehungsfragen mal am Ende meines Lateins anlangte. Das geschah mit R. nicht oft, aber wie jedes kind hatte auch er seine Phasen, in denen die Grenzen bis zum Limit ausgetestet werden mussten – kurz: in denen guter Rat teuer war.
Was ich an H. mag? Sie gibt nie vor, alles im Griff zu haben. Auch ist sie nicht Eine, die sofort mit Lösungen auffährt. Sie hört zu, fragt nach, überlegt und erzählt erst dann, was ihr in vergleichbaren Situationen weitergeholfen hat. Dabei scheut sie sich nicht, die eigenen Grenzerfahrungen als Mutter zu thematisieren. Da fühlt man sich gleich viel weniger dumm und hilflos.
2017 waren R. und ich gemeinsam mit H. und ihrem jüngsten Sohn sogar im Urlaub. Auf einem französischen Camping-Platz nahe der Grenze hatten wir uns ein kleines Bungalow gemietet und die paar Tage mit schwimmen, spielen, Boulle und Pedalo fahren verbracht. Schöne und meist harmonische Tage, während denen R. und ich uns im Flussbereich des Pools im Kreis treiben oder uns zusammen an der Leiter hinten am Pedalo durch den nahegelegenen Weiher ziehen liessen. Beim Boulle-Spielen stellte sich R. immer beim kleinen Bällchen hin und zeigte mir durch Rufen an, wohin ich zielen musste. Am Abend, wenn wir vom Restaurant gleich neben der Reception zurück zum Bungalow schlenderten, schreckten wir regelmässig Kaninchen auf, die aus der Hecke am Wegrand heraus und in einer unglaublichen Geschwindigkeit vor uns über den Weg davonsprangen.
Eines Nachmittags stellten zwei Radfahrer ihr Zelt neben unserem Bungalow auf; gleich darauf brach ein fürchterliches Gewitter los. Der Regen und der Wind brauchten nicht lange, um dem kleinen Iglu den Garaus zu machen. Kurz darauf war die Sonne wieder zurück – samt Regenbogen. Wir konnten nicht umhin, genüsslich aus unserem Häuschen heraus zu beobachten, wie die bis auf die Haut durchnässten Radfahrer ihr ebenfalls klatschnasses Zelt plus Inhalt wieder in die Satteltaschen ihrer Velos packten, um sich danach wohl auf die Suche nach einem trockenen Hotelbett zu machen. Nicht nur einmal beglückwünschten H. und ich uns dabei zu unserer vorausschauenden Buchung.
H. und ich teilen dieselbe Art Humor; zusammen können wir herrlich über Andere, aber fast noch besser über uns selbst lachen! Gleichzeitig tragen wir – wie man so schön sagt – das Herz zuweilen etwas zu weit vorn auf der Zunge, eine Eigenschaft, die uns bei Manchen beliebt und bei Anderen eher weniger beliebt macht.
Als die Ausgleichskasse mir im April 2016 zum ersten Mal die Ergänzungsleistungen kürzte mit der Auflage, ich müsste mich von nun an regelmässig bewerben, führte dieser Druck, gepaart mit einem plötzlichen finanziellen Engpass, nach einem halben Jahr zu einem kurzen stationären Aufenthalt. Schliesslich hatte ich zu dem Zeitpunkt aus mangelndem Erfolg bei der Stellensuche den Verein bereits aufgebaut, sodass ich mit der ehrenamtlichen Arbeit für die Klienten, die nicht selten an Fristen gebunden war, genug zu tun hatte. Daneben war ich ja auch noch eine allein erziehende Mutter eines 6jährigen Kindes…
Aber – oh, wie spannend! – auf einmal entdeckte die zuständige Sachbearbeiterin bei der Ausgleichskasse, der ich meine Lage telefonisch des Langen und Breiten erläutert hatte, das Prinzip der Gleichbehandlung. Ausnahmen seien leider keine vorgesehen…
Mein damaliger Anwalt grätscht dazwischen, indem er geltend macht, dass beim Prinzip der Gleichbehandlung das Schreiben der Ausgleichskasse mir ja in einer für mich lesbaren Form hätte zugestellt werden müssen. Und er hat damit tatsächlich insofern Erfolg, als dass mir ein paar Monate später per Verfügung erneut die vollen Ergänzungsleistungen zugestanden werden, jedoch mit einer Frist von sechs Monaten bis zu einer Neubeurteilung.
Doch bis ich mich – wie von meinem Arzt verschrieben – endlich in stationäre Behandlung begeben konnte, musste ich noch Kämpfe mit dem nun zuständigen Sozialdienst und R.s Beiständin ausfechten. Kosten für R.s Unterbringung in dieser Zeit würden keine übernommen, da müssten Familienmitglieder oder Nachbarn aushelfen. R.s Grosseltern hatten da aber bereits ihren wohlverdienten Südafrika-Urlaub gebucht, und meine Geschwister arbeiteten beide Vollzeit. Nach sechs Jahren Arbeitslosigkeit hatte auch R.s Vater endlich eine Teilzeitstelle im Inselspital Bern angenommen, sodass er nur begrenzt einspringen konnte.
Ich weigerte mich, R. in die Obhut einer Bekannten des Vaters, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, zu geben. Doch als ich mich schon damit abfand, die Behandlung eben nicht antreten zu können, fiel mir H. mit ihrer Familie ein. Vollkommen selbstverständlich durfte R. bei ihnen wohnen. H. brachte ihn am Morgen mit dem Veloanhänger zur Hauptstrasse hinunter, sodass er diese gefahrlos überqueren und danach ins Gyrisberg-Schulhaus gelangen konnte. Abends holte sie ihn aus der Tagesschule ab, und dann durfte er gemeinsam mit der Familie Abendessen. Zum Glück konnte R. schon mit drei oder vier Jahren problemlos anderswo übernachten. Ich war unglaublich erleichtert, ihn in der Obhut dieser erfahrenen Familie so gut aufgehoben zu wissen, und als die Einsprache gegen den Entscheid der Ausgleichskasse Erfolg zeitigte, kehrte ich schon nach drei Wochen, also früher als geplant, wieder nach Hause zurück.
So richtig gut kennengelernt habe ich H. dann aber, als wir letzten November zusammen im Tessin Ferien machten. Eigentlich waren die Kapverden geplant, doch Corona machte uns – wie wohl allen Urlaubern – einen Strich durch die Rechnung. Doch Vicky von der TUI buchte uns nach einigen Klicks auf der „Hoompeetsch“ kurzum nach Lugano um – zwar nicht „ool inklussif“, aber mit Wellness-Oase im Haus und fantastischem Restaurant gleich um die Ecke.
H. und ich verbrachten ein paar sonnige Spätherbsttage mit Wandern, Wellness und wunderbarem Essen; auch Oak kam in den Hügeln rund um Lugano so richtig auf seine Kosten.
Wir erkundeten alte Tessinerdörfer mit engen Gässchen, erklommen ultrasteile Wanderwege und verfuhren uns mehr als einmal im ausgedehnten ÖV-Netz. Egal, wo wir waren, ging uns der Gesprächsstoff nie aus.
Freundinnen wie H. sind Gold wert! Man braucht mit ihnen nicht täglich zu telefonieren. Man braucht sich auch nicht zu rechtfertigen, weshalb man sich denn schon so lange und überhaupt…Man ruft einfach an, und wenns passt, verabredet man sich spontan auf einen Spaziergang oder auf einen Kaffee. Diese Freundinnen kann man aber auch anrufen, wenn man sich bei jemandem ausheulen muss, weil der kleine eritreische Bruder nach dem vierten Negativentscheid aus Mangel an Perspektiven nach zwei einhalb Jahren das Elternhaus gegen ein Zelt und einen Schlafsack im Jungle von Calais eintauscht.
Sie nehmen sich auch ganz selbstverständlich spontan die Zeit, gemeinsam das Kind von der Schule abzuholen, um mit ihm zum Kinderarzt zu fahren.
Während ich in meiner Schulzeit weder Freundinnen noch Gspänli hatte, hatte ich ab der Studienzeit in Zürich immer das Glück, eine oder zwei solcher Freundinnen zu haben. So Freundinnen eben, mit denen man zwar nicht ununterbrochen zusammenklebt, mit denen man bei Bedarf aber über beinahe alles reden kann. Gute Gesprächspartnerinnen, die sich gerade dadurch von den Anderen abheben, dass ihr Lebensweg auch nicht unbedingt ganz geradlinig verlaufen ist. Ihnen kann man sich öffnen, weil man nicht Angst haben muss, gleich abqualifiziert oder beurteilt zu werden. Sie wissen um ihre eigenen Macken, und deshalb lassen sie bei dir auch gern mal Fünfe grade sein.
So Freundinnen wie H. eben…