Nur, dass dies ein für allemal gesagt ist: Während ich diesen Blog schreibe bin ich mir stets der Tatsache bewusst, dass ich auf einem sehr hohen Niveau klage. Wenn ich mir Dokumentarfilme aus anderen Weltgegenden ansehe bin ich immer wieder fassungslos darüber, wieviel Leid, Schmerz und Ungerechtigkeit Menschen ertragen müssen, nur weil sie als Mädchen zur Welt gekommen sind.
Da gibt es diese Dörfer im Westen Indiens, in denen sich Zuckerrohrschneiderinnen frühzeitig die Gebärmütter herausschneiden lassen, weil diese von der Schwerstarbeit und den unhygienischen Lebensbedingungen in den Unterkünften chronisch entzündet sind. Ein lukratives Geschäft für die ansässige Ärzteschaft, die sich diese Dienstleistung mit Anleihen von mehreren hundert Dollars bezahlen lässt.
Oder die Mädchen aus den muslimischen Armenvierteln in Hayderabat, die von ihren Eltern im Alter von 11 oder 12 Jahren an alte Säcke aus den Emiraten verkauft werden, die sie zuerst missbrauchen, nur um sie danach schwanger zurückzulassen.
Oder die 200 Millionen Mädchen weltweit, deren Genitalien nur deshalb verstümmelt werden, damit sie später auch ja einen Ehemann finden. Wie praktisch, dass diese Mädchen vor der Heirat und auch danach nie eine nur annähernd erfüllte Sexualität leben können! Die Aufzählung an Grausamkeiten, die Frauen im Namen von Tradition, Religion und Ehre erdulden, könnte endlos fortgeführt werden.
Wenn ich solche Dokumentarfilme sehe komme ich nicht umhin, mir Gedanken über die tiefer liegenden Motive von Gewalt an Frauen in allen möglichen und unmöglichen Variationen zu machen. Was treibt Männer nur dazu, sich solch irrwitzige Kontroll- und Disziplinierungssysteme auszudenken, nur um ihr eigenes Ego bei Laune zu halten? Ist es wirklich nur deshalb, weil die Mutter immer feststeht, während Vaterschaften nur über DNA-Tests zweifelsfrei geklärt werden können?
Ich war etwa zwölf Jahre alt, als meine Schwester zwei junge Kätzchen nach Hause brachte. Deren Mutter hatte zu wenig Milch, sodass sie die beiden schwächsten ablehnte. Das war ein Fall für meine Mama, Tier- und vor allem Katzennärrin durch und durch! Sofort besorgte sie beim Tierarzt extrakleine Fläschchen mit winzig kleinen Saugern, und natürlich gab es auch spezielles Katzenmilchpulver.
So versorgt, wurden die beiden noch blinden Katzenjungen auf dem Ehebett meiner Eltern einquartiert, und beinahe unverzüglich nahm sich unsere schwarzweisse Kätzin der Beiden an. Sie hatte zwar keine Milch, war aber noch nicht kastriert worden, sodass die hilflosen Waisenkinder scheinbar sofort ihren Mutterinstinkt weckten.
Doch die Idylle hielt nur wenige Stunden an. Da war dieser Kater, der – wol den Frühling spürend – schon seit einigen Tagen um unser haus mit der schönen Kätzin geschlichen war.
Als sich die frischgebackene Katzenmutter nun für einen Moment nach draussen begeben hatte, tauchte der Kater unversehens im Schlafzimmer meiner Eltern auf. Und dann ging alles blitzschnell: Bevor wir überhaupt realisierten, was geschah, war er aufs Bett gesprungen und hatte dem einen Jungen die Kehle durchgebissen. Und damit nicht genug. Noch während wir schockiert das sterbende Kätzchen in Sicherheit bringen wollten, war der Kater unter dem Bett hindurchgeschlichen und hatte sich von der anderen Seite her das zweite Katzenjunge gegriffen. Nachdem er auch dieses totgebissen hatte, stolzierte er aus dem Schlafzimmer und machte sich draussen auf die Suche nach seiner Kätzin.
An diese Begebenheit musste ich in den vergangenen Monaten einige Male denken. Ich bin mir nämlich sicher, dass sowohl R.s als auch Y.s Vater nichts Unrechtes daran finden, „ihre“ Jungs zurückgeholt zu haben. In ihrer Kultur ist dies die Regel: Eine Frau kann sich zwar scheiden lassen, aber die Kinder verbleiben in der Familie des Vaters. Im Fall von Söhnen umso mehr, gebietet es die religiöse Pflicht doch, dass Väter die Jungs ab einem bestimmten Alter unter ihre Fittiche nehmen und sie unter Anderem im wahren Glauben anleiten.
Nein, das habe nicht ich mir ausgedacht. Zahlreiche Autorinnen wie die Marokkanerin Fatima Mernissi oder die Deutschtürkin Necla Kelek haben diese gesellschaftlichen Hintergründe bereits in den 0er Jahren aufgezeigt.
Meine Kindergartenfreundin heiratete 2001 in Griechenland einen Mann aus Syrien. Als ihr erster Sohn geboren wurde verkündete sie per Mail, dass die Söhne immer bei der Familie des Mannes bleiben würden. Ich dachte mir da meinen Teil. Zehn Jahre später hatte sie den Mann verlassen, der auch die Kinder misshandelt hatte, und weil er Dank ihr unmittelbar vor der Belagerung aus Idlib weg und in die Schweiz kommen konnte, müssen meine Freundin und ihre drei Kinder hier im Verborgenen unter einer neuen Identität leben.
Ich hatte mich nie schlagen lassen. Als R.s Vater einmal Anstalten machte, die Hand gegen mich zu erheben, gab ich ihm unmissverständlich zu verstehen, dass es in dem Fall nur einen Weg durch die Tür gäbe. Das sass.
Dass ich während der Schwangerschaft eigenständig den Entschluss fasste, zurück in den Kanton Bern und in die Nähe meiner Eltern zu ziehen, gefiel ihm gar nicht. Aber er hatte anscheinend keine Lust, seine Aufenthaltsgenehmigung durch eine Trennung aufs Spiel zu setzen. Dass ich bis zur Geburt und gleich nach dem Mutterschaftsurlaub wieder im elterlichen Betrieb arbeitete, während er sich zunächst hatte krank schreiben lassen und danach auf Jahre hin keinen Job fand, war mein Fehler.
Trotzdem zog er wieder bei uns ein, als ich nach einer 3monatigen Auszeit bei meinen Eltern eine neue Wohnung nahm. Und ich?
Ich gab ihm ein Zimmer und wartete mit der Trennung so lange, bis er seine Niederlassungsbewilligung und damit ein gesichertes Bleiberecht hatte. Dass ich in dieser Zeit R. mit meinen Eltern quasi allein grosszog, während ich noch eine Ausbildung machte und arbeitete und die KiTa zahlte…So what? Ist doch selbstverständlich!
Ich habe mich zu einem Zeitpunkt von R.s Vater getrennt, als der gegenseitige Respekt noch vorhanden war. Den Vater meines Kindes wollte ich weder schlecht machen noch ausgeschafft wissen. Dass ein Kind sowohl die Mutter als auch den Vater braucht, um eine gesunde Identität entwickeln zu können, stand für mich zu keinem Zeitpunkt ausser Frage. Dazu gehörte auch, dass ich den Vater ermutigte, mit seinem Sohn immer die Muttersprache zu sprechen, und ich erlaubte ihm auch selbstverständlich, R. ein oder zwei Mal pro Jahr mit zu seiner Familie nach Algerien zu nehmen. Dass wir uns die Obhut und das Sorgerecht teilten, weil diese Regelung Laut der Anwältin, die 2013 unsere Trennungskonvention aufsetzte, für das Kindswohl am Besten sei, stellte ich nicht in Frage.
Heute denke ich manchmal, dass ich ganz schön dumm gehandelt habe. Anscheinend ist das auch die Ansicht der Richterin, der Beiständin und der sonstigen „Fachpersonen“, gibt es nun doch wahrlich genug Beispiele dafür, dass eine solche Konstellation zum Scheitern verurteilt ist. „Sie haben ihn ja schliesslich geheiratet“, musste ich mir mehrmals anhören, als die Situation eskalierte und ich mich in der Hoffnung auf Hilfe an die Polizei und an die Beiständin wandte.
Ist es das, wofür ihr uns so hasst? Weigert ihr euch deshalb hartnäckig, unsere Bedenken Ernst zu nehmen und uns zu helfen? Weil es doch Alle gesagt haben, weil wir es doch hätten besser wissen müssen?
Was wäre, wenn wir anstatt dumme weisse Frauen wohlhabende weisse Männer gewesen wären? Hättet ihr uns dann auch nicht geschützt?
Wenn ich das, was mir widerfahren ist mit dem vergleiche, was einige meiner Klientinnen mir berichtet haben, ist das nicht halb so schlimm. Auch für meine Kindheit sollte ich eigentlich dankbar sein, hatte ich doch gute Eltern und eine Menge Möglichkeiten. Dafür, dass ich trotzdem oft traurig war, fühlte ich mich lange unendlich schuldig.
In den vergangenen Jahren bin ich jedoch zur Überzeugung gelangt, dass es nichts bringt, ein Leid gegen ein Anderes aufzuwiegen. Damit wird man der Sache weder gerecht, noch löst man damit irgend ein Problem.
Im Gegenteil: Heute glaube ich, dass – wer seinen eigenen Schmerz nicht zulässt – auch keine wirkliche Empathie mit anderen Menschen empfinden kann.
Deshalb erzähle ich hier meine Geschichte. Weil ich nicht hart und zynisch meinen Klienten gegenüber werden will. Weil ich offen bleiben möchte für die Bedürfnisse meiner Eltern, die langsam in die Jahre kommen. Weil ich meinem Mann trotz Allem Liebe, Mitgefühl, ja auch Lebensfreude entgegenbringen will.
Und weil mein Herz und meine Tür offen bleiben sollen für den Tag, wenn R. zu mir zurückkommt.