25.02.2021 (Abend)

Zwei Dinge habe ich in meiner Familie nicht gelernt, weshalb ich sie mir im Jugend- und Erwachsenenalter erst mühsam antrainieren musste: Schwäche zu zeigen und Hilfe anzunehmen.

Letzteres begann ich, während meiner Zeit am Blindengymnasium in Marburg zu lernen – und zwar unter Anderem wieder im O&M-Unterricht. In Marburg wimmelt es nämlich nur so von Leuten, die mit weissen Stöcken unterwegs sind. Plötzlich war ich da Eine unter Vielen, und in Sachen Orientierung war ich trotz meiner Stockfäule im Vergleich zu meinen Altersgenossen gar nicht so schlecht aufgestellt. Fremde Leute nach dem Weg zu fragen, wenn man sich in der Oberstadt oder am Rudolfsplatz verlaufen hatte, war auf einmal auch nicht mehr ganz so furchtbar peinlich.

Ich erinnere mich noch gut an ein beinahe euphorisches Gefühl im ersten Marburger Jahr: Zum ersten Mal seit der Kindergartenzeit hatte ich Freundinnen und konnte zu Hause von gemeinsamen Ausflügen in die Eisdiele erzählen. Bald kamen auch die ersten Turniere mit der Torballmannschaft im In- und Ausland hinzu, wobei sich mein balltechnisches Talent in Grenzen hielt. In meiner Klasse waren alle blind, und wir hatten sogar blinde oder sehbehinderte Lehrer. In der Schweiz wäre so etwas undenkbar gewesen!

Was die Deutsche Blindenstudienanstalt, wie die altehrwürdige Dame immer noch genannt wird, vom Internat in Zollikofen unterschied war, dass die Wohngruppen über die gesamte Stadt verteilt waren. Nur die Schule selbst thronte auf dem Blista-Berg, den wir jeden Morgen hinaufkeuchen mussten.

Dieses dezentrale Wohnen bedeutete auch, dass wir nun allein für uns und die WG einkaufen gehen mussten – ein hervorragendes Übungsfeld, um bei Bedarf Verkäuferinnen und sonstige Fremde ansprechen und um Hilfe bitten zu lernen.

Auch das Bahnfahren verlor zwangsläufig viel von seinem Schrecken. Zwischen Marburg und zu Hause lagen plötzlich 6 Stunden Zugfahrt, mehrmals umsteigen und fünfzehn Kilo Gepäck am Rücken mit inbegriffen. Wenn ich Glück hatte, wurde ich in Karlsruhe von der Bahnhofsmission mit den Worten: „Hier isch der Handlauf, da könne sie sich feschthebe“ unter die Fittiche genommen, ansonsten blieben nur die anderen Fahrgäste als Informationsquellen. Ich war viel zu unorganisiert, um mir die Bahnhofsmission jeweils rechtzeitig und damit verlässlich vorzubestellen.

Natürlich war auch Marburg nicht frei vom Herzschmerz der adoleszenz: Eifersuchtsdramen, Liebeskummer und vor allem Anfangs auch Heimweh gehörten mit ins Programm; hinzu kam der pubertäre Idealismus, gepaart mit diesem „alles ist existentiell“-Ding, das Teenager vor sich hertragen wie ein grosses Banner. Alldem zum Trotz entwickelte sich in diesen fünf Jahren Marburg in mir doch so etwas wie ein zartes Pflänzchen Selbstbewusstsein, und ganz gewiss wurde dort ein wichtiger Grundstein für meine Identitätsfindung gelegt.

Grosse Mühe bekunde ich hingegen bis Heute, mit Kontrollverlust und Trauer umzugehen. Ohnmächtig ausgeliefert zu sein kannte ich von den unzähligen Augenoperationen, die ich in den ersten sieben Jahren über mich hatte ergehen lassen müssen. Dass sie es jedes Mal schafften, meinen Widerstand zu brechen und mir die schmerzhafte Spritze in den Oberschenkel oder – noch übler! – in den Hintern zu setzen, bedeutet für mich noch Heute der Inbegriff an Kontrollverlust. Auch die Kotzerei und die Unfähigkeit zu sprechen nach dem Aufwachen gehören dazu, bis hin zum leichten Hangover am darauffolgenden Tag.

Und nicht zu weinen habe ich dann in der Schule gelernt. Wenn sie wieder mal das Spiel „schnell Eine hauen und dann wegrennen“ oder „sie irgendwo hinführen, wo sie sich nicht auskennt und dann stehen lassen“ spielten, dann mochte ich ihnen zumindest den Triumph nicht gönnen, mich in Tränen aufgelöst zu sehen. Stattdessen überfiel mich dann eine unbändige und ohnmächtige Wut, und ich glaube Heute, dass die echt bedrohlich wirkte. Schon bald liessen sie die Spiele nämlich sein, um mich stattdessen zu ignorieren. Das war zwar nicht minder schmerzhaft, hielt sie mir aber wenigstens physisch vom Leib.

Ich habe lange gebraucht, um meine Angst vor einer Horde Kinder in den Griff zu bekommen. Noch als Erwachsene trieben mir Situationen, in denen ich allein mehreren Kindern gegenüberstand, buchstäblich den Angstschweiss auf die Stirn. R. war diesbezüglich eine echte Herausforderung. Um keinen Preis wollte ich, dass meine Ängste seinen eigenen Kontakt zu Kindern negativ beeinflussten, und so zwang ich mich förmlich dazu, an Kita-Festen oder Kindergartenanlässen teilzunehmen. Selbstverständlich glänzte der Vater da meist mit Abwesenheit, aber mir die Blösse geben und mit den Grosseltern dort aufkreuzen…Das gab mir mein Stolz nicht zu.

Und ich war immer dort! Manchmal hatte ich Glück und traf Eltern, mit denen ich am Tisch sitzen oder mit denen ich mitgehen konnte. Aber ich erinnere mich auch an mehrere Anlässe, an denen ich gefühlt endlos lange allein ausharrte, bis R. endlich genug gespielt hatte.

Dieses Unvermögen, meine wahren Gefühle auch gegenüber mir eigentlich gutgesinnten Menschen ausdrücken zu können, hat meine Leidensgenossin K. leider zwei Mal erfahren müssen. Dabei war sie ganz und gar unschuldig, war einfach zur falschen Zeit da, sodass sie die gesamte Wucht an angestauter Anspannung und Trauer in Form eines telefonischen Wutausbruchs abbekam. Konnte ich den Spiegel, den sie mir mit ihrem eigenen, authentischeren Umgang mit dem gemeinsamen Schmerz vorlebte, nicht ertragen? War es meine Angst vor der erneuten Konfrontation mit diesem Schmerz oder schlicht die Scham über mein unangebrachtes Verhalten, die mich dazu trieb, den Kontakt danach abzubrechen?

Darüber, dass sie mir Heute trotzdem geschrieben hat, habe ich mich unglaublich gefreut! K. hat Anspruch auf einen gebührenden Platz in dieser Geschichte, denn ohne sie würde ich wohl noch Heute glauben, ich hätte selbst Schuld daran, dass ich von meinem eigenen Sohn abgelehnt werde. Sie war es, welche den Begriff „Entfremdung“ als Erste im Zusammenhang mit dem einbrachte, was gerade mit unseren beiden Söhnen passierte, und so ist sie genau genommen auch die Namensgeberin dieses Blogs.

K…Danke für Alles!

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