24.02.2021 (Abend)

Zuerst muss ich Heute etwas klarstellen, bevor ich es vergesse. Von meinem anerzogenen Misstrauen gegen Fachpersonen haben mich zahlreiche Angehörige dieser Spezies bereits während meiner Kindheit und Jugend recht gut kurieren können. Eine dieser Fachpersonen liest mit und sei hiermit ganz herzlich gegrüsst!

Sie gab die Handarbeitsstunden in der dritten und vierten Klasse, für die ich in die Blindenschule durfte. Jedesmal ein Highlight! Die über drei einhalb meter lange Patchworkschlange liegt immer noch bei mir zu Hause; zwar hat R. sie beim Spielen in der Mitte entzweigerissen, aber die Erinnerung an meinen Stolz über das Machwerk spüre ich noch jetzt. Auch Kasperlefiguren, Seifen und Sisalteppiche haben wir dort selbst gemacht; ich glaube, dass einer dieser über 30jährigen Sisalbettvorleger noch immer das Schlafzimmer meiner Eltern ziert.

in sehr positiver Erinnerung habe ich auch die Turnstunden an der Blindenschule, vor allem dann, wenn wir an den Moossee oder gar zum Aareschwimmen durften. Und erst das gemeinsame Singen im Bus auf der Hin- und Rückfahrt, mehrstimmig, und die kannten doch sogar die französischen Lieder auswändig.

Auch an den riesengrossen Fallschirm, um den wir zunächst einen Kreis bilden, ihn dann gemeinschaftlich hochheben und schliesslich darunterkriechen durften, denke ich gern zurück. Dieses Gefühl der Geborgenheit kam beinahe an die Psychomotorikstunden bei Frau J. heran, während denen ich allerlei Musikinstrumente ausprobieren, mich im Bällebad räkeln oder untr leichte, bunte Tücher schlüpfen durfte. Dabei fanden wir zufällig heraus, dass man die Farben der Tücher auch über die Haut wahrnehmen kann. Ich frage mich, ob die damals noch junge Therapeutin dieses Phänomen auch mit anderen Schülern erforscht hat. Für mich waren diese stunden damals wahre Inseln der Geborgenheit in einem von kindlichen Ängsten, Scham und Einsamkeit erfüllten Schulalltag!

Als sehr zwiespältig habe ich die O&M-Stunden in Erinnerung. Dabei lernte ich ab der dritten Klasse unter Anleitung, mit dem Weissen Stock zu gehen. Als schon damals enorm eigenständiges Kind hätte ich eigentlich die neuen Freiheiten, die mir dieser weisse Stock versprach, freudig annehmen sollen. Zu Beginn platzte ich auch beinahe vor Stolz darüber, mich nun allein und nicht länger an der Hand meiner Mutter oder anderer Kinder fortbewegen zu können. Doch der Stolz hielt nicht lange an: Als ich zum ersten Mal, gefolgt von meiner Mutter, von der Spitalgasse aus das Rohr hinunterstöckelte, fing mich auf einmal eine alte Schachtel auf und zeterte: „Oh! Schaut mal! Es wollte grad zu mir kommen!“

Von da an waren meine O&M-Stunden nie mehr unbeschwert. Immer begleitete mich diese Scham und das Gefühl, dass mich alle Leute anstarrten. Während ich in Begleitung der O&M-Trainer grade mal so durch Zollikofen oder Bern gehen konnte, glichen Trainings im Dorf oder ums Schulhaus herum wahren Spiessrutenläufen. Wie ich mir dann wünschte, einfach unsichtbar werden und im Boden verschwinden zu können!

Besonders unangenehm war es mir, wenn ich ganz allein mit dem Zug nach Zollikofen oder von dort zurück fahren musste. Schüchtern wie ich war, traute ich mich nicht, fremde Leute anzusprechen und nach der nächsten Station zu fragen. Lieber verging ich beinahe vor Angst, am richtigen Bahnhof vorbei zu fahren und mich dann irgendwo auf einem fremden Perron wiederzufinden. Man bedenke: Diese Zugfahrten fielen noch in die Ära ante Mobilis!

Ohnehin hatte ich immer einen Riesenstress damit, mich irgendwo zu verlaufen. Mir im Dorf oder auf dem Schulgelände die Blösse zu geben, vor aller Augen die Orientierung zu verlieren…Nein! Absolut undenkbar! Aus Prinzip liess ich den Stock aber ausserhalb der O&M-Stunden immer im Rucksack; nie im Leben wäre ich freiwillig damit umhergelaufen und hätte mich so dem Spott meiner Mitschüler preisgegeben! Lieber ging ich auf Nummer sicher. Entweder blieb ich irgendwo stehen, von wo aus ich auch bestimmt wieder zurückfinden würde, oder ich passte den richtigen Moment ab, um den Anderen vom alten ins neue Schulhaus hinüber zu folgen. Ganz schön stressig, denke ich Heute, und ganz schön dumm! Aber wer steckt schon drin in der Haut eines von Komplexen geplagten Teenagermädchens, das sich nichts sehnlicher wünscht, als einfach so zu sein wie alle Andern!

Doch damit wieder zurück zu den Fachpersonen. Meine Erfahrungen als Kind und Teenager erwiesen sich in den folgenden Jahren als überwiegend verlässlich: Die Fachpersonen, die direkt an der Basis, also mit der Gattung, auf die sie sich spezialisiert haben, arbeiten, sind in der Regel sowohl umgänglich als auch alltagstauglich. Je grösser die Affinität zu Theorien aber und vor allem je grösser die Distanz zum lebenden Objekt, desto eher ist Vorsicht angezeigt. Kommen zu den eben genannten Eigenschaften noch ein schlechtes Selbstwertgefühl oder ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein hinzu, dann scheint es angeraten, unverzüglich das Weite zu suchen. Auf jeden Fall sollte man es vermeiden, sich im Machtbereich solcher „Fachpersonen“ länger als unbedingt nötig aufzuhalten. Ist auch das unumgänglich, dann sollte man sich zumindest davor hüten, sich ihrem Verdikt auszuliefern.

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