23.02.2021 (Nachmittag)

Einer der Gründe, weswegen ich Spaziergänge mit Oak so liebe ist der, dass man dabei so wunderbar nachdenken kann. Und nicht wie beim Grübeln und Brüten in den eigenen vier Wänden, wo sich die Gedanken oft im Kreis und damit nicht selten in einer Abwärtsspirale drehen, bleiben die Gedanken während des Spazierens im Fluss. Wenn die Natur mal nicht genug Input hergibt, kann man dabei immer noch Podcasts oder Youtube-Videos hören.

Nein, keine True Crime Podcasts – zumindest im Moment nicht. Das habe ich ja mit der Superpsy vereinbart. Die passen auch nicht wirklich zu dem schönen Frühlingswetter.

Heute waren es gleich mehrere Podcasts, die mein Denken seither in Zusammenhang mit meinen täglichen Aufzeichnungen hier beeinflusst haben. Der Erste, eine ARD-Produktion aus dem Jahr 2019, handelte vom Leid der sogenannten „Verschickungskinder“. Anscheinend hat es sich eine ganze Industrie an Wohlfahrtsverbänden, Kirchenvertretern, Altnazis und Ärzten in der BRD über Jahrzehnte zum Ziel gemacht, Kinder in „Kuren“ zu verschicken, wo sie übelster physischer und psychischer und teilweise sogar sexueller Misshandlung ausgesetzt waren. Nicht selten wurden sie dabei auch Medikamentenversuchen unterzogen. Jugendämter wollten davon nichts gewusst haben, hatten sie ihre Besuche nach entsprechenden Meldungen den Verantwortlichen doch immer brav vorgemeldet.

Wie bei den Verbrechen im Zusammenhang mit der schweizerischen Zwangsfürsorge fällt auf, dass die Betroffenen erst Jahrzehnte später öffentlich über die erlittenen Misshandlungen sprechen. Die Behörden beteuern, dass eine Aufarbeitung dringend notwendig sei. Für die zahlreichen Betroffenen, deren Kindheit und Jugend von den traumatischen Erlebnissen in den „Kuren“ gemäss eigenen Aussagen nachhaltig beeinflusst worden war, eine späte Genugtuung…

Auch in dieser Dokumentation stellte sich natürlich die Frage, wie derlei flächendeckende und systematische Misshandlungen an wehrlosen Kindern über einen so langen Zeitraum hinweg geschehen konnten. Die Erklärung des Filmteams, wonach einige der Betreiber solcher „Kurunterkünfte“ ehemalige Nazifunktionäre gewesen seien, befriedigt mich nur zum Teil. Oder waren die Verantwortlichen für die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, die gleichzeitig ja bei uns stattfanden, auch überwiegend Nazis? Euren Aufschrei kann ich förmlich hören.

Die Nazitheorie suggeriert, dass so etwas heutzutage nicht mehr vorkommen könne. In solch systematischer und flächendeckender Weise mag dies sein, aber ich kann mich gleich an mehrere Kinder erinnern, die bei uns im Dorf über Jahre von den Eltern misshandelt wurden. Alle wussten es – und alle haben weggeschaut.

Irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass es etwas Tieferes ist, das Erwachsene dazu treibt, Kinder so zu behandeln, wie sie selbst niemals behandelt werden möchten. Dieses Etwas macht mir Angst, ganz ehrlich.

Was ich aber noch viel erschreckender finde ist der Umstand, wieviel Macht Ärzte und andere Fachleute offenkundig über die Eltern hatten. Wenn ein Kind völlig verängstigt aus einem solchen Aufenthalt zurückkam, konnte das den Eltern doch nicht verborgen bleiben! Aber offenbar wurde das akzeptiert, weil die Verantwortlichen ja vom Fach waren, und so konnten fröhlich weiter Kinder verschickt, misshandelt und als medizinische Versuchskaninchen missbraucht werden.

Als ich 1979 geboren wurde, waren das wahrlich bessere Zeiten, um Kind zu sein. Zudem hatte ich das Glück, in einem aufgeklärten und wohlwollenden Elternhaus aufwachsen zu dürfen. Und meine Eltern waren verdammt mutig! Nicht nur hat meine Mutter allen ärztlichen Unkenrufen zum Trotz stets darauf beharrt, dass ich – abgesehen von meinen Augen -, doch völlig gesund sei, sondern meine Eltern haben es sogar gewagt, für ihr blindes Kind von Vornherein eine integrative Beschulung einzufordern!

Aber meine Mutter muss oft auf verdammt einsamem Posten gekämpft haben. So, wie ich die Asolidarität anderer Mütter habe kennenlernen dürfen glaube ich nicht, dass sich je einmal eine andere Mutter öffentlich hinter sie gestellt hätte. Wie ich ist auch sie so ganz zwangsläufig zur Einzelkämpferin geworden. Konsequent und beharrlich stand und steht sie für das ein, was ihr richtig und wichtig erscheint.

Sie konnte Punktschrift, wofür sie von den Müttern anderer blinder Kinder wahnsinnig bewundert wurde! Sie illustrierte selbst ganze Bücher taktil, mit denen ich lesen lernte. Sie adaptierte Spiele, sodass ich sie gemeinsam mit der Familie spielen konnte. Sie brachte mich mit dem Tandem zur Schule und in den Musikunterricht. Und sie sang mit mir Dimitri-Lieder oder las mir die Kinderausgabe des Nibelungenlieds vor, wenn im Inselspital wieder einmal einer durch die Scheibe geflogen war, sodass er noch vor mir notoperiert werden musste.

Meine Mutter war nie eine leichtgläubige Frau. Als sich ein IV-Sachbearbeiter erdreistete, ihr am Telefon zu sagen, sie müsse eben gewisse Mehrkosten in Kauf nehmen, wenn sie schon ein solches Kind wolle, hat sie ihn eingeklagt. Die Pflegepauschale für Kinder mit Geburtsgebrechen, die meinen Eltern eigentlich von Beginn an zugestanden hätte, mussten sie beim Bundesverwaltungsgericht erstreiten.

Aber auch unter den Eltern sehbehinderter Kinder verhielt die Solidarität nicht. Bald schon gab meine Mutter ihren Sitz im Entlastungsverein wieder auf, weil keine der anderen Eltern sich traute, sich mit der Invalidenversicherung oder den Fachpersonen anzulegen. Da machten sie doch lieber die Faust im Sack und bedauerten ihr schweres Schicksal.

What the heck! Kann ich etwas dafür, dass ich so herausgekommen bin? Unangepasst, einzelkämpferisch, nie auch nur annähernd in eine der vorgesehenen Schubladen passend?

Aber was wäre die Alternative gewesen? Würde ich Heute allein leben, verheiratet sein, eine erfüllende Aufgabe haben, Mutter sein?

Eigentlich habe ich ja keine hohen Ansprüche ans Leben gestellt, finde ich. Ich will weder Geld noch Ansehen noch einen fetten BMW vor der Haustür haben – und gleich sein wie ihr will ich schon lange nicht mehr. Aber weshalb man mir mein Kind wegnehmen musste, weiss ich nicht.

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