Dass mein Vater es mit mir um Einiges leichter hatte und wohl noch immer hat, liegt nicht nur an diesem speziellen Vater-Töchter-Ding. Natürlich spielt das auch hinein, und bestimmt fällt der Umstand, dass er während unserer Kindheit und Jugend viel gearbeitet hat und deshalb nicht diese mühsamen Alltagskämpfe mit uns Blagen ausfechten musste, auch ins Gewicht.
Aber da ist noch mehr. Meinen Vater habe ich schon immer beinahe abgöttisch geliebt. Ich kann mich noch an das Gefühl erinnern, wie ich als kleines Mädchen Abends bei ihm auf dem Schoss sitzen durfte, wenn wir Besuch hatten. Dort konnte mir nichts passieren!
Jassen und Schachspielen hat er mir ebenso beigebracht wie die Grundlagen des Skifahrens. Ich kann mich nur an ganz wenige Situationen erinnern, in denen er die Geduld mit uns verloren und uns richtig in die Schranken gewiesen hat. Dabei ist er kein einziges Mal laut geworden. In meinem ganzen Leben habe ich meinen Vater nie schreien hören.
Wir Beide teilen die Liebe für Süsses aller Art. Zwischen uns gibt es diese etwas kindischen Running Gags, die uns auch nach X-facher Wiederholung noch zum Lachen bringen. Und nicht nur auf mich wirkt mein Vater wie ein Fels in der Brandung.
Zu seinen Prinzipien gehörte Beispielsweise, dass er sich bis zu seiner Pensionierung weigerte, bei geschäftlichen Treffen eine Krawatte umzubinden. Mit Erfolg. Seine geschäftlichen Beziehungen beruhen bis Heute auf alten Verbindungen aus der Ausbildungs- und Militärzeit. Hinzu kommt eine unbestechliche Loyalität, gepaart mit einer tief verwurzelten Abneigung gegen Staatsdiener und Opportunisten.
Dieser rebellische Geist gegen Bürokraten nimmt vor allem nach seiner Pensionierung zuweilen groteske Züge an, so zum Beispiel, wenn er eine Parkbusse in Raten à SFr. 10.– abzahlt, nur um damit seinem Unmut bis zum Schluss Ausdruck zu verleihen. Auch die Mitarbeiter der Steuerverwaltung bekommen seine Auflehnung gegen die Staatsgewalt regelmässig zu spüren.
Abgesehen davon ist mein Vater einer der grosszügigsten Menschen, den ich kenne, und dies nicht nur in finanzieller Hinsicht. Früher gab er sein berufliches Knwohow an zahlreiche Lehrlinge weiter, nach seiner Pensionierung kamen vor allem meine eritreischen Brüder in den Genuss seines handwerklichen Könnens.
Mein Vater ist ein hervorragender Gastgeber, wobei klar betont werden muss, dass dies nicht das Organisatorische und nur bei Grillabenden auch das Kulinarische mit einschliesst. Gäste einzuladen und zu verköstigen ist das Spezialgebiet meiner Mutter. Viele meiner Freunde schwärmen noch Jahre später von ihren Kochkünsten.
Wie auch ich schon hatte R. dadurch, dass er der Erstgeborene war, einen ganz speziellen Status bei seinem Grossvater. „Ihr könntet ihm noch auf den Teller scheissen und er würde es trotzdem gut finden“, brachte meine Mutter dieses Verhältnis nicht ohne eine Spur von Missfallen auf den Punkt.
Dass R. seinen Grossvater Heute so verleugnen muss, finde ich deshalb besonders schlimm. Er liebte diesen Jungen! Dass R. schon mit vier einhalb Jahren anfing, ins Fussballtraining zu gehen, schweisste die Beiden noch enger zusammen. Das brachte beim Grossvater, der neben dem alten Wankdorfstadion aufgewachsen war, Kindheitserinnerungen auf. Kaum je hat er ein Turnier verpasst, und bei den jährlichen Sponsorenläufen hat die kleine Rakete den Grossvater regelmässig als laufenden Wasserspender mit eingesetzt.
Meine Mutter und ich können bis Heute nicht über den Verlust sprechen. Als die Sache eskaliert ist, haben wir uns so übel gestritten, dass sie sich völlig aus der Angelegenheit zurückgezogen hat.
Wie schon damals 2005, als ich wegen einer Erschöpfungsdepression in langer stationärer Behandlung war, war es mein Vater, der mir durch diese furchtbare Zeit geholfen hat. Damals auf der Hohenegg tauchte er manchmal gegen Abend plötzlich auf dem Motorrad auf und lud mich auf den Pfannenstiel zum Essen ein. Er war einfach da, wir redeten über dies und jenes, einfach so. Ohne Erwartungen, ohne Schuldgefühle. In dieser Zeit fand ich heraus, dass mein Vater nicht nur ein unterhaltsamer Erzähler, sondern auch ein sehr guter Zuhörer ist. Er ist nicht jemand, der mit Ratschlägen oder der Moralkeule auf Einen eindrischt. Er hat dann auch nichts Hyperaktives, kann damit leben, dass es im Moment grad keine Lösung gibt. Er sitzt dann einfach da, geniesst sein Essen oder trinkt seinen Kaffee, während er nur zuhört.
Er war einfach da, damals und auch jetzt in dieser Geschichte, ertrug mich mit meinem Schmerz und meiner ohnmächtigen Wut. Letztere hat alle Andern ausser ihm und meinem mann in die Flucht getrieben, sodass der Kontakt entweder abbrach oder ich diese Wut in ihrer Anwesenheit verleugne.
Mein Vater hat beides, den Schmerz und die Wut, ausgehalten, und nicht selten hat er mich nach einem furchtbaren Heul- oder Wutausbruch deshalb sogar wieder zum Lachen gebracht.
Dafür, dass er auch in diesen Zeiten wie selbstverständlich da war und ist, bin ich meinem Vater ewig dankbar!