20.02.2021

Nun bin ich an einem kniffligen Punkt angelangt, was mein Vorhaben, R.s Entfremdungsgeschichte zu erzählen, anbelangt. Ein wahrheitsgetreuer Bericht über die Ereignisse und eine umfassende Reflexion meiner Rolle impliziert automatisch auch einen Blick in mein familiäres Umfeld. Schliesslich ist R. bei mir nicht auf einer unbewohnten Insel aufgewachsen; selbst Robinson Crusoe oder der Unglückliche in „Cast away“ hatten ihre Spiegel in Form von Vertrauten, auch wenn es sich bei Wilson „nur“ um einen Ball handelte.

Sobald aber Familienmitglieder in eine Geschichte involviert sind, haben wir es sehr schnell mit sehr heiklen Beziehungslabyrinthen mit verborgenen Falltüren und Tretminen zu tun. Wie sind wir von unseren Eltern geprägt worden? Welche Wertvorstellungen und Lebenskonzepte haben sie uns mit auf den Weg gegeben? Und – sobald die Kinder kommen -: Welche Elternrollen haben wir uns – bewusst oder unbewusst? – von ihnen abgeguckt?

Ha! Zu früh gefreut! Ich werde jetzt keine Generalabrechnung in Form einer umfassenden Beichte über meine auf zwar anstrengende, aber auch liebenswerte Art disfunktionale Familie abliefern. Zunächst einmal würde das dieses Vorhaben sprengen und zweitens vielleicht einem nächsten Blog mit dem Titel „meine schrecklich normale Familie“ in unvorteilhafter Weise vorgreifen.

Das Waschen von schmutziger Wäsche in aller Öffentlichkeit ist etwas, das ich für eine grosse Schwäche halte. Gleichzeitig bin ich aber der felsenfesten Überzeugung, dass – je makelloser die Fassade eines trauten Heims erscheint -, umso interessanter der Blick durch die sorgsam geschlossenen Fensterläden ist.

Leider muss ich gestehen, dass ich R. zuweilen kein sehr gutes Vorbild im Umgang mit der eigenen Mutter war. Diese Erkenntnis beschäftigt mich Heute sehr. Wenn man davon ausgeht, dass jede Krise – also auch jedes Unglück, das einem zustösst – einen Sinn haben soll, dann wäre es diese Einsicht. Mann! Wie wir uns zuweilen gefetzt haben!

Dabei kann meine Mutter nichts dafür, dass sie diejenige war, die bei jeder der 90 Vollnarkosen, die mir im Kindesalter verpasst wurden, mit mir zusammen im Spital war. Dass sie es war, die mich gleichzeitig den rabiaten Krankenschwestern mit der schmerzhaften Spritze auslieferte und hernach beim Aufwachen wieder neben meinem Bett sass.

Diese 90 Vollnarkosen in der Augenklinik des Berner Inselspitals waren nicht dazu angetan, unserer Mutter-Tochter-Beziehung einen unproblematischen Start zu bescheren. Nicht, dass ich meiner Mutter jemals Vorwürfe gemacht hätte deswegen. Intellektuell habe ich nie daran gezweifelt, dass meine Eltern nur das getan haben, was alle Eltern in ihrer Situation getan hätten: Das wenige an Augenlicht, das noch vorhanden war, zu bewahren.

Etwas intellektuell zu verstehen und gleichzeitig emotional damit umgehen zu können sind jedoch zwei komplett verschiedene Paar Schuhe. Im Nachhinein betrachtet war die zwiespältige Rolle, in die meine Mutter da vom Schicksal oder wer weiss wem hineingedrängt wurde, eine verdammte Zumutung!

Nicht unbedingt förderlich war zudem der Druck, unter dem mich meine Eltern anschliessend öffentlich eingeschult haben. Schon ganz früh stand für mich fest: Dieses Projekt muss gelingen, wenn ich meine Eltern nicht den Unkenrufen der vielen wohlmeinenden Fachpersonen preisgeben will. Diese Aufgabe habe ich sehr sehr Ernst genommen.

Hinzu kommt eine Reihe von willensstarken, aber zuweilen auf eine destruktive Art ehrgeizige, da um Anerkennung ringende Frauen, gepaart mit ein paar wirklich sehr kuriosen Persönlichkeiten sowohl in väterlicher als auch mütterlicher Linie. Sie Alle haben mich in meiner Kindheit und Jugend auf die eine oder andere Art geprägt. Einige machten mir Angst, einige befriedigten meine Arroganz des allwissenden Teenagers, auf sie herabsehen zu können, und wieder andere trieben mich dazu an, meine eigenen Grenzen immer und immer wieder zu ignorieren.

Dieser Drang gehörnter, männlicher Schafe, der mich dazu zwang, immer mit dem Kopf durch die Wand gehen zu müssen – wobei ich ihn mir dabei nicht selten blutig stiess -, ist nicht nur meinem Sternzeichen geschuldet. Erst kürzlich wurde mir bewusst, wie stark er in der internen Konkurrenz unter den weiblichen Familienmitgliedern und der Angst, sich dabei eine Blösse zu geben, verwurzelt ist. R. hat viel dazu beigetragen, dass ich in den letzten paar Jahren ab und zu mit dem, was ich leistete, zufrieden sein durfte. Ich hatte keine Wahl als zu lernen, mich selbst wahrzunehmen. Zwar war ich oft Abends erschöpft, wie das wohl jede allein erziehende und berufstätige Mutter ist, aber R. lehrte mich, meine eigenen Grenzen nicht nur besser zu respektieren, sondern sie auch Anderen gegenüber zu setzen. Dass dieser Lernprozess zuweilen zu Lasten meiner armen Mutter gegangen ist, tut mir Heute aufrichtig leid.

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