17.02.2021, Abend

Kaum ist es ein bisschen wärmer und die Sonne wieder da, sind auch sie zurück: die Stimmen der spielenden Nachbarskinder. Lange Zeit konnte ich das kaum ertragen, denn stets habe ich deine Stimme unter diesen lachenden, schreienden, diskutierenden, wütenden, manchmal auch weinenden Kinderstimmen gesucht. Grad schien sie doch noch dagewesen zu sein, deine etwas heisere, für mich – wie wahrscheinlich für jede mutter – unverkennbare Stimme.

Minutenlang bin ich dann am Wohnzimmertisch gesessen, völlig apathisch, eine Zigarette nach der anderen rauchend, nicht in der Lage, meinen Schmerz in Worte zu fassen. Das war in den ersten Monaten nach deinem Weggang unerträglich, und eben, als ich von meinem Spaziergang mit Oak in die Wohnung mit dem offenen Wohnzimmerfenster zurückgekommen bin, waren sie nach langer Zeit wieder da – und mit ihnen die Erinnerungen.

Die Erinnerungen an Fussballspiele mit Lars und Len, an „Chübeli-um“-Sessions am Abend mit Carla und Julia. An dein „Mama, kannst du uns an der Schnur etwas zu Essen herunterlassen?“

Du hattest viele Freunde hier, R.. Mit deiner offenen Art hast du immer schnell Leute kennengelernt.

Dass mich bis Heute nur eine einzige der Nachbarsmütter auf dein plötzliches Verschwinden angesprochen hat, macht mich noch immer sprachlos. Da spielt ein Kind über Jahre mit den eigenen Kindern, es ist im selben Fussballclub oder in derselben Schule. Man kennt es, weil man es im Coop oder im Migros antrifft…

Und plötzlich ist dieses Kind weg. Die Mutter ist noch da, doch niemand fragt nach. Nicht die Nachbarinnen, nicht die Fussballmamis. Da du ein halbes Jahr vor deinem Weggang erst die Klasse gewechselt hattest kannte ich die Eltern deiner Klassenkameraden im Säget nicht.

In den ersten beiden Monaten nach deinem Weggang habe ich kaum allein das Haus verlassen. Im Voi um die Ecke war ich ein ganzes Jahr lang kein einziges Mal. Und als ich wiederkam, hat die nette brasilianische Verkäuferin nach dir gefragt. Dafür habe ich sie spontan in den Arm genommen.

Wenn sie dir das Kind wegnehmen, dann bleibt etwas hängen, das dich in den Augen der anderen Eltern zum Paria werden lässt. Irgend etwas muss die doch gemacht haben, hätte auch ich früher gesagt. Anders ist es doch nicht möglich, dass das Kind, das neun Jahre lang bei ihr wohnte, plötzlich weg ist…

Und wahrscheinlich würde auch ich das mittlerweile glauben, wäre da nicht dieses andere Kind gewesen. Zwei Kinder, die sich kannten. Zwei Väter, die miteinander Kontakt hatten. Und zwei Mütter, die parallel ihre Söhne verloren haben…

Eure nach oben zeigenden Daumen deute ich übrigens als Signal dafür, dass ich mich euch weiter zumuten darf. Danke an N. für ihren ermutigenden Anruf von Heute Mittag, und merci J. für dein Angebot, mich bei Bedarf bei dir aussprechen zu dürfen. Ich schätze das, bin aber nicht wirklich jemand, der gut über eigene Probleme reden kann. Da mache ich das Meiste mit mir selbst aus, oder aber ich missbrauche meine Superpsy als emotionalen Kotzkübel. Keine Angst, sie weiss um ihre Nicknames und ihre von mir liebevoll zugeschriebenen Aufgaben. Am Montag hat sie ganz schön absorbieren müssen, deshalb habe ich auch nichts geschrieben. Gott sei Dank aber hat sie einen guten Humor und ist keine dieser moralinsauren Lehrbuch-Tanten. So haben wir uns schliesslich für nächste Woche wieder verabredet und abgemacht, dass ich mir diese Woche nicht zu viele True Crime Podcasts reinziehe. Die Obama-Memoiren findet sie da schon konstruktiver.

Damit mag sie wohl recht gehabt haben. Wir wussten am Montag aber Beide nicht, dass ich tatsächlich auch weiterschreiben würde.

Hinterlasse einen Kommentar