Brief 10.12.2020

Lieber R.

„Thy rebuke hath broken my heart: I am full of heaviness. I looked for some to have pity on me, but there was no man, neither found I any to comfort me.“ (Psalm 69:20)

Am Montag ist es soweit. Mit grösster Wahrscheinlichkeit werde ich dann – ganz und gar auf rechtstaatlichem Weg natürlich! – als deine Mutter entsorgt. Die Obhut über dich hat dein Vater ja bereits letzten Sommer an sich gerissen, nachdem er dich auf Geheiss von Gerichtspräsidentin Rickli mit nach Algerien nehmen durfte. Es wird ein grosser Sieg sein für deinen Vater und seine Anwältin. Nicht nur die Obhut haben sie mir entziehen können – nein, auch das alleinige Sorgerecht bekommt dein Vater zugesprochen. Grossartig! Auch du wirst dich mit deinem Vater und deiner Stiefmutter freuen, denke ich, denn das ist es ja, was du Laut Protokoll der Anhörung durch die Gerichtspräsidentin vom 30. November 2020 willst: Die Mutter nicht mehr sehen, ganz und gar beim Papa bleiben. Falls das so ist, lieber R., dann gönne ich dir diesen Sieg von ganzem Herzen. Ich kann dich nicht halten, wenn du gehen willst. Wie sagte Khalil Gibran in seinen Versen über die Kinder? „So wie Er den Pfeil liebt, der weit fliegt, so liebt Er auch den Bogen, der standhaft bleibt.“ Wenn das meine Rolle als deine Mutter ist, die Gott für mich ausersehen hat, dann werde ich dieses Joch annehmen und es tragen. Ich habe dich nie als mein Eigentum angesehen, Rachid. Das darf man nicht, wenn man jemanden wirklich liebt. „versucht nicht, ihnen eure Gedanken zu geben, denn sie leben im Haus von Morgen, das ihr nicht zu betreten vermögt“, sagt Gibran an einer anderen Stelle über die Rolle, die Eltern im Leben ihrer Kinder einnehmen sollen. Was mich um Herz und Verstand bringt ist nicht die Tatsache, dass du dich eines Tages von mir lösen und deine eigenen Wege gehen wirst. Das tut ihr Kinder doch alle. Es ist die Art und Weise, wie man dich, den kleinen Baum, der gerade daran war, Wurzeln im Leben zu schlagen, brutal herausgerissen und in ein Umfeld verpflanzt hat, das so ganz und gar nicht deins ist. Du Draussenkind, immer auf dem Sprung, jetzt eingepfercht in einer kleinen Hochhauswohnung inmitten von Beton! Du kleiner Händler, immer feilschend und fragend, neugierig wie ein Schwamm, nun eingepfercht in einer Welt aus Gut und Böse, halal und haram. Du neugieriger Weltenentdecker, jetzt reduziert auf eine winzige Welt zwischen YB, dem Nizzaer Ghetto und fünf Wochen Algerien pro Jahr. Was geschieht mit einem Baum, dessen halbe Wurzel man herausreisst und abhackt? Wächst er weiter oder verkümmert er langsam? Du hattest starke Wurzeln bei uns, bei deinen Grosseltern, deiner Tante, dem Onkel und den Cousins. Fehlen sie dir wirklich nicht, wie du der Gerichtspräsidentin versicherst? Oder kommen manchmal vor dem Einschlafen vielleicht doch die Erinnerungen zurück, Erinnerungen an Geburtstagstorten, die Grosi selbst gebacken hat? An Malerarbeiten, die du mit deiner Tante in Mehreteabs Wohnung ausführen durftest? An die Ferien im Wohnwagen, zusammen mit Grosi und Grossvater im Briger Bad? Möchtest du nicht wieder einmal mit deinen Cousins draussen im Garten in Konolfingen herumrennen? Hast du das wirklich alles vergessen? Oder hast du es vielleicht doch irgendwo in deinem Herzen eingeschlossen, ganz fest, so wie die Austern ihre Perlen einschliessen? An einem Ort, zu dem ,niemand Zutritt hat, weil es ein verbotener Ort ist? Deine neue Lehrerin, Frau Mordasini, meinte, sie habe dir überhaupt nichts angemerkt. Du seist in der Schule fröhlich und lebhaft, habest Freude am Fussballtraining und kämst gut mit deinen Klassenkameraden aus. Weisst du, dass ich mich freuen würde, wenn ich wüsste, dass es wirklich so ist? Aber deine Aussagen der Gerichtspräsidentin gegenüber klingen monoton und auswändig gelernt. Alles ist „gut“. Das passt nicht zu dir, R.. Bei dir wars nicht einfach nur „gut“, sondern es war….Es war irgendwie, hatte eine Eigenschaft, auch wenn die „scheisse“ hiess. Aber „gut“, „gut“ und nochmals „gut“…Das bist nicht du, R.. Oder hat dir das Ganze auch irgendwie die Sprache verschlagen? R.. Es gibt ganz viele Leute, die wissen, was passiert ist, aber fast alle haben sie weggeschaut. Es schien sie nicht zu interessieren, dass ein Kind einfach verschwand. Nur ganz Wenige haben nachgefragt, und ich habe ihnen meine Version der Geschehnisse erzählt. Alle waren sprachlos, kannten sie uns, doch, seit du klein warst, zusammen. Und niemand versteht, weshalb die sogenannten Fachleute nichts sehen wollen. Es ist doch gar zu offensichtlich, was hier gespielt wird! R.. Es ist absurd, aber dein Vater, dieser angeblich gute Moslem, hat mich zu einer gläubigen Christin werden lassen. Sonst würde ich Heute nicht mehr leben. Diese Ungerechtigkeiten, Anmassungen, Schubladisierungen, Ver- und Beurteilungen durch die Fachleute – und daneben ihr ohnmächtiges Schweigen oder gar ihre harsche Zurückweisung angesichts meiner mütterlichen Trauer…Diese Leute geben vor – oder noch schlimmer – bilden sich doch tatsächlich ein, deine Zukunft zu deinem Besten gestalten zu wollen. Ich als deine Mutter, die dich zur Welt gebracht und neun Jahre lang nach bestem Wissen und Gewissen grossgezogen hat, hat darin keinen Platz mehr. R. Du bist mein einziges Kind, das ich über Alles geliebt habe. Niemand in meinem Leben wird je den Platz einnehmen können, den du in meinem Herzen hast. Für niemanden habe ich je so viele Tränen geweint, so inbrünstig gehasst und so verzweifelt darum gefleht, dass Gott mich doch endlich sterben lassen solle.

Ja, R.. Ich hasse all Jene, die in diesem unseligen Spiel eine Rolle übernommen haben, und sei es auch nur, indem sie einfach nichts getan haben, obwohl sie es wussten. Ich vergesse keinen Namen aus dieser Liste, die ich irgendwo in meinem Hinterkopf ablegen werde. Jeden Tag werde ich Gott darum bitten, dass er das Unrecht, das uns angetan wurde, wieder gutmacht. Wenn ich ganz und gar im Schmerz versinke oder wenn mich diese ohnmächtige Wut hinwegzutragen droht, dann höre ich den Messias von Händel. Den kennst du, R.. Ich habe ihn schon gehört, als du noch in meinem Bauch warst. Es gibt wohl nichts, was näher an den Schmerz herankommt als Händels Oratorium. Aber es gibt auch nichts, was einen unglücklichen und hoffnungslosen Menschen mehr tröstet als dieses Werk. denn Eines ist klar, R.. Ich kann mich nicht einfach so aus diesem verfluchten Leben hinausstehlen, auch wenn ich mir zurzeit nichts mehr wünsche als genau das. Es gibt da zwei oder drei Dinge, die mich davon abhalten – nebst meiner Feigheit natürlich. Eins von diesen Dingen bist du, R.. Die Hoffnung, dass du eines Tages zurückkommen wirst und fragst, wie das denn alles wirklich gewesen ist. Ich werde alle Akten aufbewahren, R., und ich werde mein Bestes tun, um dir meine Sicht zu erklären. Bis dahin werde ich versuchen, das Joch zu tragen, das Gott mir auferlegt hat. Denn es heisst:

„Come unto Him, all ye that labour, come unto Him that are heavy laden, an He will give you rest. Take His yoke upon you, and learn of Him, for He is meek and lowly of heart, and ye shall find rest unto your souls.“ (Matthew 11 : 28-29).

Nein, dieses Joch ist nicht leicht, und Seine Bürde auch nicht! Aber wenn du eines Tages vor meiner Tür stehen wirst, dann wird dieser jetzige Schmerz nur noch eine ferne Erinnerung sein. Und dann können wir damit beginnen, uns wieder neu kennenzulernen. Und mit Sicherheit werden wir uns dann wieder ineinander erkennen, denn die Wurzeln, die man dir abgehackt hat, leben irgendwo in deinem Herzen weiter.

Darum bitte ich Gott!

Deine Mama

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