Brief 20.10.2019

20.10.2019

Lieber R.

Ich weiss nicht, wann du diesen Brief lesen wirst. Es kann sein, dass dies erst in einigen Jahren der Fall sein wird, denn ich bin mittlerweile auf alles vorbereitet.

Am 23. Oktober 2019 wird die nächste „Einigungsverhandlung“ vor Gericht stattfinden. Dabei wird sich herausstellen, ob wir uns in den kommenden Jahren wieder regelmässig sehen werden oder nicht. Die Entscheidung hängt nicht von mir ab, sondern die zuständige Richterin wird festlegen müssen, ob sie mir mein Recht, dich zur Hälfte weiter betreuen zu dürfen, zugestehen will oder nicht. Vielleicht entscheidet sie sich dafür, dies nicht zu tun, und sie lässt dich weiterhin bei deinem Vater. Mit ihm aber wird es nie wieder eine Einigung geben. Dazu hat er mich, deine Mutter, zu stark verletzt und öffentlich gedemütigt. Wenn sich die Richterin dafür entscheidet, dass dein Vater dich mir weiterhin ungestraft wegnehmen und entfremden darf, dann werde ich mich dafür entscheiden müssen, den Kampf aufzugeben. In diesem Fall wird es lange Zeit dauern, bis wir uns wiedersehen. Vielleicht bist du dann schon erwachsen. Vielleicht wirst du eines Tages nach mir suchen und dich fragen, wo deine Mutter ist. Vielleicht werden sie dir erzählt haben, sie hätte dich nicht mehr gewollt. Vielleicht wirst du glauben, deine Mutter sei eine schlechte oder psychisch kranke Frau, die dich nicht habe grossziehen können, und deshalb hätten sie dich ihr wegnehmen müssen. Ich weiss, dass du unter Umständen lange an die Lügen glauben wirst, die man dir erzählt. Eltern sind für Kinder so etwas wie Heilige, die immer die Wahrheit sagen, und die vor allen Dingen nie lügen. Daran muss man als Kind glauben, wenn man in Sicherheit aufwachsen möchte. Aber ich glaube fest daran, dass irgend einmal der Tag kommt, an dem du zu suchen beginnst. Wenn Gott will werde ich dann noch da sein und auf dich warten können. Vielleicht aber wirst du dann deine Akte lesen müssen. Darin wirst du das Fotoalbum finden, das wir, dein Grossvater, dein Grosi, T. und ich, für dich gemacht haben. Dort drin wirst du auch meinen Brief finden. Ganz zuerst will ich dir versichern, dass ich dich über Alles liebe. Du warst es, der meinem Leben Sinn, der mir jeden Tag einen Grund gegeben hat, aufzustehen, auch wenn die Zeiten noch so hart waren. Du bist es, an den ich jeden Morgen beim Aufstehen denke, und am Abend gehe ich mit einer Erinnerung an dich schlafen. Wir haben uns nun drei Monate nicht gesehen, aber glaube mir, dass kein Tag vergangen ist, an dem ich nicht zig Male an dich gedacht, an dem ich nicht ein Dutzend Mal irgendwo entlanggelaufen bin und mich plötzlich an etwas erinnert habe, was du gesagt oder getan hast. Wie oft habe ich mich gefragt, was ich wann verpasst habe, was ich wann hätte anders machen können. Jeden Tag trauere ich mehr als einmal einem Augenblick nach, in dem ich mich statt mit, dir mit irgendetwas Anderem beschäftigt habe! Aber wie alle Mütter habe ich daran geglaubt, dass wir noch viel Zeit miteinander hätten. Ich habe es als sicher vorausgesetzt, dass ich die Zeit mit dir gemeinsam verbringen würde, bis du alt genug seist, auf eigenen Beinen zu stehen und in die Welt hinauszuziehen. Du warst in meinem unsteten Leben das Einzige, was mir sicher und beständig zu sein schien. Aber ich habe mich schrecklich getäuscht. Alles, was in den vergangenen neun Monaten passiert ist, läuft oft wie in einem schlechten Film vor meinem inneren Auge ab. Noch immer kann ich es nicht fassen, dass mir das zugestossen ist, dass ich nicht einfach auf die Fernbedienung drücken und diesen Horrorstreifen ausschalten kann. Du wirst die Akten lesen, R., dessen bin ich mir ganz sicher. Du bist ein intelligenter Junge, das warst du schon immer. Du warst mein – nein unser – ganzer Stolz! Deinen Sinn für Gerechtigkeit und die Eigenschaft, Sachen zu hinterfragen, haben mich schon früh beeindruckt. Du hast nie etwas einfachakzeptiert, nur weil ich dir gesagt habe, dass es so sei. Immer wolltest du wissen warum. Immer wolltest du – ganz der kleine Araber -, noch einen kleinen Vorteil für dich heraushandeln. Was gäbe ich darum, mich noch einmal so unbeschwert mit dir streiten zu dürfen, wie wir es so oft getan haben! Welche Rolle, die unsere Behörden, die eigentlich dazu da wären, dein Wohl zu schützen, in deinem Fall gespielt haben, wirst du zu gegebener Zeit aus den Akten erfahren. Ich mag die unzähligen Demütigungen, Falschaussagen und Versäumnisse hier nicht wiederkäuen wie eine alte Kuh. Was mir so unglaublich erscheint ist die Tatsache, dass du all das, was dir dein Vater und deine Stiefmutter erzählen, einfach fraglos hinzunehmen scheinst. Wieso diskutierst du mit ihnen nicht, tobst herum oder schmeisst mit Sachen, wie du es bei mir getan hast? Fühltest du dich bei mir vielleicht so sicher und wusstest, dass ich dich nicht wegschicken würde, egal wie fürchterlich du dich aufführst? Oder haben sie es tatsächlich geschafft, dass du angefangen hast, mich zu hassen? Fühltest du dich verpflichtet, deinen Vater und seine neue Familie vor mir zu schützen? Es war schon immer bezeichnend, wie sehr du dich bereits als kleines Kind wie ein Wachhund vor deinen Vater gestellt hast! Nicht nur mir ist das aufgefallen. Er war und ist für dich unfehlbar, oder sonst ist er ein Opfer von äusseren Umständen. Nie hast du die Schuld bei ihm gesucht. Sogar den Umstand, dass dein Vater kein Geld hatte, weil er lange Zeit nicht gearbeitet hat, hast du mir vorgeworfen. Ja R.. Als deine Mutter habe ich mich verpflichtet gefühlt, stark zu sein. Die Kinder zu schützen, das ist meiner Meinung nach die wichtigste Aufgabe von Eltern. Diese Aufgabe habe ich so gut wie möglich zu erfüllen versucht. So gut wie möglich habe ich mich bemüht, dich ohne Sorgen um Geld in einer Umgebung mit vielen Freunden aufwachsen zu lassen. Meine Blindheit sollte für dich nie eine Belastung sein, sie war meine Sache. Deshalb war es von Anfang an mein wichtigstes Ziel, dass du aufwachsen kannst wie alle anderen Kinder um dich herum. Dafür habe ich alles Nötige organisiert, von Claudia über Nathalie bis hin zum Grossvater, der dich zu YB gefahren hat. Wenn das Geld fürs YB-Camp nicht reichte, dann habe ich es bei Onkel Philipp oder Tante Christine ausgeliehen. Für Ferien habe ich Begleitpersonen extra bezahlt, damit auch du nach den Schulferien etwas zu erzählen hattest. Nein R.. Dafür erwarte ich keine Dankbarkeit von dir. All das hat zu den schönen Erinnerungen beigetragen, die ich jetzt an unsere gemeinsame Zeit in meinem Kopf und meinem Herzen trage. Zu den Erinnerungen, die mir Heute die Tränen in die Augen treiben. Aber ich erinnere mich natürlich auch daran, dass es manchmal hart und einsam war. Der Kampf, den man als quasi allein erziehende Mutter mit Job führt, erlaubt kaum ein Sozialleben. Nur Dank deinen Grosseltern und den Eritreern bin ich in dieser Zeit nicht völlig vereinsamt. Am Abend oder am Wochenende war ich oft zu müde, um noch mit einer Freundin zu telefonieren, und so sind viele Kontakte einfach abgebrochen. Denn du darfst nicht glauben, dass man als alleinerziehende Mutter etwa regelmässig in die heilen Nachbarsfamilien eingeladen würde. Du, R., warst als „Gspänli“ akzeptiert, ich als deine Mutter. Aber als eigenständige Person ist man dort nur ganz selten willkommen. Und nun schien alles langsam gut zu werden. Da kam Oak, der dir ein Freund hätte werden können, da du ja keine eigenen Geschwister hattest. Da kam t., und langsam aber sicher ist es uns gelungen, einander zu vertrauen. Eine gemeinsame Zukunft, ein richtiges Familienleben, schien in Reichweite zu sein! Und jetzt das hier, R.. Dieser riesige Scherbenhaufen und das Gefühl, dich für immer verloren zu haben. Es gibt wohl kaum etwas Schlimmeres, was einer Mutter widerfahren könnte! Egal, was sie dir einzureden versuchen, R.. Es ging mir nie darum, dich deinem Vater wegzunehmen. Ich habe nur von ihm verlangt, dass er endlich Verantwortung übernimmt. So, wie die Dinge Anfang Jahr finanziell standen, sah ich es nicht ein, dass ich alles bezahlte und er sich dafür eine Frau aus Algerien importierte. In meinen Augen hat er sie damit über dich gestellt. Zuerst hätte er für dich, seinen Sohn, zahlen müssen, und nicht für andere Leute. Das zumindest habe ich die vergangenen neun Jahre so gehalten. Ich weiss nicht, was man dir eingeredet, welche Lügen man dir eingetrichtert hat. Was ich aber kaum fassen kann ist die Art und Weise, wie die Behörden damit umgehen. Nein, Gerechtigkeit ist das nicht! Bis ich dich nach Algerien gehen lassen musste habe ich so gut wie möglich versucht, dich nicht in diesen ganzen Streit hineinzuziehen. Ich wollte nicht, dass sich ein 9jähriges Kind mit Geldsorgen, Sozialdiensten und Ausländerrecht auseinandersetzen muss. Auch die – wie sich nun herausstellt – begründete Angst, dass dein Vater dich mir im Gegenzug wegnehmen könnte, mochte ich nicht mit dir besprechen. Wenn ich dich nicht nach Algerien habe gehen lassen wollen dann genau, weil ich befürchtet habe, dass all das eintrifft, was in den vergangenen drei Monaten passiert ist. Mein Gefühl hat mich nicht getrogen. Und jetzt ist es zu spät. Ich habe keine Möglichkeit mehr, dir meine Sicht der Dinge zu erklären, denn ich komme einfach nicht mehr an dich heran. Hoffentlich erinnerst du dich einmal daran, was ich dir oft gesagt habe: „Es gibt immer mehr als eine Wahrheit.“ Deshalb schreibe ich dir diesen Brief. In einem Buch habe ich gelesen, dass es einen „Ungerechtigkeitsschmerz“ gebe. Das stimmt. Er ist seit einigen Monaten immer da, wie eine entzündete Wunde in meinem Herzen und in der Magengegend. Manchmal muss ich weinen und kann kaum mehr damit aufhören, und zuweilen habe ich eine solche Wut, dass ich vor meinen eigenen Gedanken Angst bekomme. Dann muss ich raus, muss laufen und laufen und hoffen, dass irgendeinmal die Müdigkeit stärker ist als die Wut. Schlafen kann ich nur noch mit Medikamenten. Würde ich Nachts aufwachen und stundenlang wachliegen dann wüsste ich nicht, wie das ausginge. Zu T. habe ich kürzlich gesagt: „Ich wünschte, ich könnte mir das Herz herausreissen und den Kopf abschneiden, nur um für ein paar Stunden nicht mehr fühlen und denken zu müssen.“ Das aber werde ich der Richterin am Mittwoch nicht sagen, sonst bastelt sie daraus gleich wieder eine neue Geschichte über meine angeblich „mangelnde Impulskontrolle“. Aber was, das frage ich mich oft, würde sie, würden all diese schlauen Fachleute, die angeblich nur das Beste für uns wollen, in einer solchen Situation tun? Wie viel Ungerechtigkeit, wie viel Demütigungen kann ein Mensch ertragen? Von den Eritreern weiss ich, dass Menschen noch viel mehr ertragen können als ich. Ich weiss, dass auch meine Wunde irgendeinmal heilen, dass der Schmerz früher oder später abklingen wird. Aber was ist dann noch von dem Menschen, deiner Mutter, übrig? Was werde ich dir dann noch geben können? R., ich will, dass du weisst, dass dich keine Schuld trifft. Du bist noch ein Kind, das die Folgen von dem, was es tut, noch nicht abschätzen kann. Aber dein Vater, deine Stiefmutter, Y.s Vater und all die sogenannten Fachleute und Gesetzeshüter sollten genau wissen, was es bedeutet, einer Mutter das Kind wegzunehmen bzw. dem Kind die Mutter. Ja, es gibt Mütter, die ihre Kinder aus irgendwelchen Gründen nicht lieben können. Hier müssen die Behörden einschreiten, um diese Kinder vor Misshandlungen oder Vernachlässigung zu schützen. Ich war bestimmt keine perfekte Mutter, R., und auch keine Maschine, die immer zu 100% funktioniert hat. Das habe ich dir und allen Anderen gegenüber auch nie behauptet. Aber ich habe dich geliebt. Jeden Abend, wenn du neben mir eingeschlafen bist, habe ich dem Himmel dafür gedankt, dass du da bist. Wenn ich ungerecht zu dir war, habe ich mich immer dafür entschuldigt, und wenn ich dir nicht alles habe durchgehen lassen, dann hatte das Gründe, die ich dir auf Nachfrage zu erklären versuchte. Wenn ich mich jetzt dafür entscheiden muss, dass du dann eben beim Vater bleiben sollst, dass ich nichts mehr unternehmen werde, um Kontakt zu dir aufzunehmen, dann hat auch das Gründe. Es ist nicht, weil ich dich nicht mehr will oder nicht mehr liebe. Es ist schlicht darum, weil ich nicht mehr kann. Irgendeinmal muss man einsehen, dass ein Kampf verloren ist. Dann muss man einen Punkt machen und weitergehen. Dann muss man das alte Leben, das nun in Scherben vor Einem liegt, hinter sich lassen, um überhaupt noch weiterleben zu können. Diese Wut, diese Ohnmacht, diese Ungerechtigkeit – all das frisst mich auf. Und eine verbitterte und zornige Mutter brauchst du nicht. Die würde dir dann wirklich dein Leben und deine Träume kaputtmachen. Die Wunde wird lange brauchen, um zu heilen, und sogar die Narbe, die am Ende zurückbleibt, wird noch ab und zu schmerzen. Aber wie sollte das auch anders sein? In dieser ganzen unseligen Geschichte habe ich immerhin mein Kind, meinen R., verloren. Den R., den ich kannte, den ich liebte, mit dem ich so unbeschwert herumdiskutiert habe. Auch wenn du eines Tages zu mir zurückkommst, R.. Die Unschuld, die Unbeschwertheit, das scheinbar so unverbrüchliche Band, das einmal zwischen uns bestanden hat. haben sie uns für immer genommen.

Darum weine ich…

Dein Mami

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